Qualitätsunterschiede. Ralf Becker

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Qualitätsunterschiede - Ralf Becker Blaue Reihe

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erklärt.

      Der andere Grund, Digitalisierung von Quantifizierung zu unterscheiden, liegt in der jeweiligen technischen Umsetzung. Das klassische Instrument zur Quantifizierung ist das Messgerät, in dem zuvor erwähnten Beispiel das Thermometer für die Quantifizierung von Wärme. Das Werkzeug der Digitalisierung hingegen ist der Computer, ein Hilfsmittel zur Ausführung von Berechnungen (von lat. computare für ›berechnen‹). Vereinfacht gesagt dient Quantifizieren dem Messen, während Digitalisieren dem Berechnen dient. Die Quantifizierung macht etwas (für Messungen) zählbar, die Digitalisierung berechenbar. Wenn Hannah Arendt von der »Berechenbarkeit menschlicher Angelegenheiten«26 spricht, die in der Neuzeit gestiftet wird, dann lässt sich die Herstellung dieser Berechenbarkeit daher als Digitalisierung beschreiben.

      Die Idee des Computers reicht weit zurück. Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. und Raimundus Lullus im 13. Jahrhundert formulierten Ideen für logische bzw. symbolische Maschinen, die logische Kalküle abarbeiten können. Formalisierte Anweisungen für eine endliche Abfolge von Schritten zur Lösung eines Problems, vor allem für Berechnungen, heißen Algorithmen. Der Ausdruck geht auf den latinisierten Namen des arabischen Mathematikers Al-Chwarizmi zurück, der im 8./9. Jahrhundert in Bagdad lebte. Symbolische Maschinen arbeiten mit Algorithmen. Digitalisierbar ist grundsätzlich jede Handlung, die an eine symbolische Maschine delegiert werden kann.27 Ein griffiges Beispiel dafür ist der Taschenrechner, ein Werkzeug, das so konstruiert ist, dass es menschlichen Benutzern Ergebnisse für Rechenaufgaben liefert. Computer selbst rechnen jedoch nicht. Rechnen ist ein zielgerichtetes Handeln, und Maschinen sind keine Akteure.28 Daher ist diese Bezeichnung für Maschinen irreführend, ursprünglich wurden so menschliche Rechnerinnen und Rechner (z. B. bei der NASA) genannt. Der Doppelaspekt der Formalisierung (in bloße Zeichenkombinationen) und Algorithmisierung (in programmierbare Zeichenoperationen) markiert den Eigensinn der Digitalisierung gegenüber der Quantifizierung.

      Als einer der ersten hat Georg Simmel in seiner Philosophie des Geldes (1900) das historisch gewachsene Erkenntnisideal identifiziert, »alle qualitativen Bestimmtheiten der Wirklichkeit in rein quantitative aufzulösen«.29 Auch Simmel führt als Beispiel die Wärmemessung durch Thermometer an. Der paradigmatische Fall, an dem sich der »Übergang von dem qualitativ bestimmbaren zu dem quantitativ symbolischen Ausdruck«30 nachvollziehen lässt, ist jedoch das Geld. Die monetäre Symbolisierung der Wirklichkeit steht stellvertretend für eine immer umfassendere Rationalisierung des Lebens durch Zählen, Messen und Berechnen. Messen ist Wissen lautet die Parole dieses Denk- und Lebensstils. Das Geld repräsentiert das »messende, wägende, rechnerisch exakte Wesen der Neuzeit«.31 Die Geldwirtschaft »bewirkt von sich aus die Notwendigkeit fortwährender mathematischer Operationen im täglichen Verkehr. Das Leben vieler Menschen wird von solchem Bestimmen, Abwägen, Rechnen, Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt«.32 Aus der Analyse des Geldwesens gewinnt Simmel sein »Stilbild der Gegenwart«: »Die geistigen Funktionen, mit deren Hilfe sich die Neuzeit der Welt gegenüber abfindet und ihre inneren – individuellen und sozialen – Beziehungen regelt, kann man großenteils als rechnende bezeichnen. Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein großes Rechenexempel zu begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in einem System von Zahlen aufzufangen«.33

      Von diesem Intellektualismus zeugt auch und gerade die »rechnerisch-exakte Naturdeutung«:34 Die moderne Naturwissenschaft begreift »die Erscheinungen nicht mehr durch und als besondere Substanzen, sondern als Bewegungen […], deren Träger gleichsam weiter und weiter ins Eigenschaftslose abrücken«, und löst schrittweise die Weltinhalte »in Bewegungen und Relationen« auf.35 Was sich wie eine Vorwegnahme der fünf Jahre später publizierten Einsteinschen Relativitätstheorie (bzw. von Ernst Cassirers zehn Jahre später erschienenem Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff) liest, lässt sich ebenso an der Definition physikalischer Größen nach dem Internationalen Einheiten-System (SI-Einheiten) unter Verwendung von Naturkonstanten belegen. So ist beispielsweise das Kilogramm als Einheit für Masse (m) durch die Plancksche Konstante mit Hilfe der Definitionen von Meter und Sekunde festgelegt. Das physikalische Maßsystem bestimmt Maßeinheiten nicht mittels Substanzen (man denke z. B. an das Pariser Urmeter), sondern durch Beziehung zu anderen Maßeinheiten. Es ist kein Zufall, dass die Bedeutungsdimension von physis als das Wesen einer Sache aus dem modernen Naturverständnis völlig herausgefallen ist. Was als natürlich gelten kann, gibt sich nicht mehr substantiell, sondern wird allein in Relation zu messenden und rechnenden Erkenntnishandlungen bestimmt. Natürlichkeit ist ein Widerstandskoeffizient, der über die rein logische Widerspruchsfreiheit hinaus den Verknüpfungsspielraum von Messgrößen begrenzt.

      Die folgenden Untersuchungen beleuchten das Erkenntnisideal der ›Welt als einem großen Rechenexempel‹ von der ›rechnerischexakten Naturdeutung‹ her. Damit bewegen sie sich nicht außerhalb der zuvor skizzierten mehr oder weniger gesellschaftskritischen Gegenwartsdiagnosen. Vielmehr gründen die in diesem Buch versammelten Studien in der Hypothese, dass sich in gesellschaftlichen Verhältnissen ein Naturverhältnis des Menschen artikuliert. Diese systematische Voraussetzung ist freilich nicht neu – leitet sie doch bereits die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno (1944). Die beiden Autoren rekonstruieren bekanntlich die europäische Geschichte als eine Geschichte der Naturbeherrschung. Wir haben es daher nicht mit einer Alternative zu tun: entweder Gesellschaft oder Natur, sondern beide Dimensionen sind auf intrikate Weise ineinander verschlungen, die sowohl dem Kulturrelativismus als auch dem Naturalismus Hohn sprechen. Weder ist Natur bloß ein gesellschaftliches Konstrukt noch Gesellschaft ein Naturereignis. Vielmehr sind sie Aspekte der einen Welt des Menschen, die sowohl gesellschaftlich als auch natürlich verfasst ist. Mit Ernst Wolfgang Orth soll diese Welt des Menschen als Kultur bestimmt werden.36 Es mag auf den ersten Blick irritieren, Natur als Aspekt oder Dimension von Kultur aufzufassen. In einem wohlverstandenen Sinne bekenne ich mich durchaus zu einem moderaten Kulturalismus (siehe Kap. 1).

      Gegenwartsarchäologie

      Simmels Formulierung des neuzeitlichen Erkenntnisideals, das nicht zuletzt in der Geldwirtschaft eine materielle Grundlage hat, führt von der Diagnostik der Gegenwart auf ihre Archäologie zurück. Die Idee, »alle qualitativen Bestimmtheiten der Wirklichkeit in rein quantitative aufzulösen«, ist charakteristisch für die europäische Neuzeit und Moderne. Weder in der Antike noch im Mittelalter war dies die beherrschende wissenschaftliche Weltansicht. Mit Blick auf das Naturverhältnis tauchen in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung immer wieder zwei prominente Namen auf: Leonardo da Vinci (1452–1519) und Galileo Galilei (1564–1642). Diese beiden stehen emblematisch für einen Epochenbruch in der Naturforschung, der sich am Anfang der Neuzeit im 16. und 17. Jahrhundert vollzogen hat.

      Paul Valéry erkennt in Leonardo den Vorläufer einer Wissenschaft, deren Wesen darin besteht, »das Wissen vom Können abhängen zu lassen«. Die moderne Wissenschaft definiert Valéry als »die Gesamtheit der Rezepte und Verfahren […], die immer gelingen […]: alles andere ist Literatur«. »Ihr Vertrauen beruht einzig und allein auf der Gewißheit, ein bestimmtes Phänomen mittels bestimmter wohldefinierter Handlungsschritte reproduzieren oder wiedersehen zu können.« Das Herstellen übernimmt die »Bürgschaft« für das Wissen. »Wir wissen, was wir können. Alles übrige ist nur Austausch von Worten.«37 Die Philosophie, »zuständig für Qualitäten«, mit dem Wort als »Mittel und Zweck«, wandert somit von der Seite der Wissenschaft auf die der Literatur.38 Leonardo verstand unter »echtem Wissen nur etwas, dem irgendein Handlungsvermögen entsprach. Schöpferisches Tätigsein, Konstruieren waren für ihn untrennbar von Erkennen und Verstehen.« Mit diesem Denken »schlug er einen Weg ein, auf dem unser Geist sich heute bewegt«.39 Die »Arbeit des Geistes« hat »nicht mehr eine letzte Schau zum Ziel«;40 der aktive Geist löst den kontemplativen ab, und eine seiner wesentlichen Aktivitäten ist das Experiment. Im Experiment

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