Qualitätsunterschiede. Ralf Becker
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Die Phänomenologie kultureller Praxis betreibt, zweitens, Konstitutionsanalyse, die die Kultur als Welt des Menschen aus Leistungen und Tätigkeiten rekonstruiert. Dementsprechend leitet Husserl die naturwissenschaftliche Theorie aus der Messpraxis und aus der Idealisierung der Maße ab; Objektivität ist eine Erkenntnisleistung, die Methoden voraussetzt.73 Die Konstitution von Kultur zu analysieren, heißt, die Humanisierung der Welt schrittweise gedanklich abzubauen (Reduktion) und anschließend wieder aufzubauen (Rekonstruktion). Wenn der Horizont der Kultur durch tätiges Leben aufgespannt wird, dann impliziert der Lebensbegriff immer auch die biotisch-naturale Seite jener vitalen Bedeutsamkeiten und materiellen Mitursachen (synaitiai), von denen bereits die Rede war.
Die Phänomenologie kultureller Praxis geht, drittens, vom Korrelationsapriori zwischen Gegenstand und Gegebenheitsweise aus. Zum »Aufbau einer humanen Umwelt« gehört je schon (a priori) »die Korrelation der Humanisierung und der humanisierenden Subjektivität«, die ihre humane Umwelt tätig konstituiert.74 Dieses wechselseitige Aufeinander-verwiesen-Sein von Erfahrungsgegenstand und Erfahrungsgegebenheit ist unhintergehbar und kann weder einseitig auf die Objekt- noch auf die Subjektseite reduziert werden (Objektivismus bzw. Subjektivismus). Das Korrelationsapriori ist letztlich eine Explikation jenes Vorrangs der Beziehung vor den Bezogenen und fungiert zugleich als Korrektiv gegen einen Platonismus, der die Welt in die beiden Sphären des Subjektiv-Relativen und des Objektiv-an-sich-Seienden aufteilt. »Objektivierung ist Sache der Methode, fundiert in vorwissenschaftlichen Erfahrungsgegebenheiten. Mathematische Methode ›konstruiert‹ aus anschaulicher Vorstellung ideale Gegenständlichkeiten und lehrt, diese operativ und systematisch zu behandeln. […] Ideen entspringen durch eine eigenartige Geistesleistung: durch Idealisierung.«75 Auch die Ideenwelt entgeht dem Korrelationsapriori nicht.
Die Phänomenologie kultureller Praxis erkennt, viertens, die Abhängigkeit eines jeden »objektiven Apriori« von einem entsprechenden »lebensweltlichen Apriori« an.76 Jeder theoretische Geltungsanspruch wird in Handlungen eingelöst (oder nicht), die nicht in der Welt des reinen Raums der Geometrie oder der reinen Kausalgesetze der Physik stattfinden, sondern in der kulturellen Lebenswelt. Anschaulicher formuliert: Der Physiker liest seine Messgeräte nicht in einem n-dimensionalen Vektorraum ab, sondern in dem Labor, das ihm von seiner Universität zur Verfügung gestellt wird, in dem er einen Teil seiner Berufszeit verbringt und bemüht ist, sogenannte Artefakte (unbeabsichtigt verfälschte Messergebnisse) zu vermeiden usw.
Die Phänomenologie kultureller Praxis operiert, fünftens, in kritischer Einstellung gegen den Verlust des Ursprungssinns der Produkte tätigen Lebens. Ihr Anliegen ist es, eine Rationalität zur Vernunft zu bringen, die hinter den von Menschen hervorgebrachten Erzeugnissen eben jene Menschen mit ihren Interessen und Zielen ausblendet. In jeder Tatsache steckt eine Tat, und diese darf nicht zugunsten bloßer Funktionalität und vermeintlicher Objektivität den handelnden Personen streitig gemacht werden. Außerdem bleibt die Phänomenologie der arbeitenden Subjekte eingedenk, die sie selbst hervorbringen. Kritische Einstellung ist ohne kritische Reflexion des eigenen Standortes nicht zu haben.
In Erfahrung und Urteil bemerkt Husserl, »daß zur Welt, wie sie uns, erwachsenen Menschen unserer Zeit, vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaft der Neuzeit an Bestimmungen des Seienden geleistet hat. Und wenn wir auch selbst nicht naturwissenschaftlich interessiert sind und nichts von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wissen, so ist uns doch das Seiende vorweg wenigstens so weit bestimmt vorgegeben, daß wir es auffassen als prinzipiell wissenschaftlich bestimmbar.«77 Wenn Kulturphänomenologie die Konstitution der humanisierten Welt rekonstruiert und die wissenschaftliche Weltauffassung zum Kernbestand der neuzeitlich-europäischen Kultur gehört, dann wird die Wissenschaft nicht bloß als eine kulturelle Praxisform unter anderen zum Gegenstand der Kulturphänomenologie, sondern weil sie die für unsere Kultur charakteristische »Horizontvorzeichnung«78 von Erkenntnisgegenständen überhaupt darstellt. Eine Phänomenologie kultureller Praxis kommt nicht umhin, die »gefährliche[n] Sinnverschiebungen«79 zu reflektieren, die mit einer Ontologisierung wissenschaftlicher Methoden verbunden sind. Mit Husserl ist daran zu erinnern, dass auch die Theorie eine Praxis ist, die sich in einem Interessenhorizont vollzieht. Die beschriebene Sinnverschiebung von einer Welt-für-Menschen hin zu einer Welt-an-sich macht aus einer »Welt als Horizont« eine »Welt als Gegenstand« naturwissenschaftlicher Forschung.80
Genau hier setzt Husserls (unfertig gebliebenes) Krisis-Werk an. »Die mathematische Naturwissenschaft ist eine wundervolle Technik, um Induktionen von einer Leistungsfähigkeit, von einer Wahrscheinlichkeit, Genauigkeit, Berechenbarkeit zu machen, die früher nicht einmal geahnt werden konnten.« Es ist aber genau diese Leistungsfähigkeit der neuzeitlichen Naturwissenschaft, die dazu führt, dass der Wissenschaftler als »arbeitende[s] Subjekt« vergessen wird, dessen Empirie wie jede Erfahrung interessegeleitet ist.81 Die mathematisch-naturwissenschaftliche Methode hat den Zweck, die innerhalb der vorwissenschaftlichen Erfahrung bloß möglichen »rohen Voraussichten […] zu verbessern« und mittels mathematischer Formeln die Welt für uns Menschen »durch Konstruktion beherrschbar« zu machen.82 Wird das »Sinnesfundament« der Wissenschaft in der Lebenswelt vergessen, dann verliert Wissenschaft ihre »Lebensbedeutsamkeit«.83 Entkoppelt von den ursprünglichen Interessen, verselbständigt sie sich zu einer bloßen »Tatsachenwissenschaft«,84 die vermeintlich eine an sich bestimmte Wirklichkeit abbildet. Statt mit Mitteln, die zu vernünftigen Zwecken eingesetzt werden können, hat man es nur noch mit Sachzwängen zu tun, die die technisch errungenen Freiheiten einzuschränken und Verantwortung abzuschieben helfen.
Gegen die Logik von Sachzwängen hält die Kulturphänomenologie am Primat der Praxis vor der Theorie fest. Husserl zeigt am Beispiel der Geometrie, wie die mathematische Methode durch Idealisierung einer »realen Praxis«85 entstanden ist. Ihren Sitz im Leben hat die Geometrie dem Wortsinne nach in der empirischen Feldmesskunst und wurde beispielsweise im alten Ägypten eingesetzt, um nach dem regelmäßig wiederkehrenden Nilhochwasser die Felder neu auszumessen. Es lässt sich in einer genealogischen Erzählung mühelos verständlich machen, wie eine solche Messkunst durch die Festlegung von Maßen, die Erzeugung rechter Winkel und die Bestimmung von Längen und Flächen immer weiter verfeinert wird, bis als Ideale solcher Verbesserungen sogenannte »Limes-Gestalten«86 auftauchen: z. B. ein rechter Winkel, der nicht ›noch rechtwinklinger‹ sein kann, ein zwar praktisch unerreichbarer, aber die Messpraxis anleitender rechter Winkel von genau 90°. Im Interesse der Verfahrensverbesserung operiert man mit ›reinen Formen‹, hinter denen aber nicht etwa selbständige Objekte, sondern Vorschriften stehen: ›Wenn Du einen rechten Winkel erzeugen willst, dann mußt Du … tun‹. Durch »Idealisation und Konstruktion« werden aus den Limesgestalten schließlich »Idealgebilde«,87 denen die Unterstellung zugrunde liegt, dass das Herstellungsziel idealer Formen erreicht ist. Erst wenn der hypothetische Charakter dieser Idealitäten vergessen wird, entsteht das Selbstmissverständnis einer zweckfreien Wissenschaft.88
Kulturphänomenologie und Methodischer Kulturalismus
Der von Husserl beschriebene Idealisierungsprozess ist ein Fall dessen, was in der Erlanger Schule Konstruktiver Wissenschaftstheorie »Hochstilisierung« heißt. Paul Lorenzen wusste, was er Husserl und der Phänomenologie zu verdanken hat: »Erst im Anschluß an Dilthey und Husserl haben Misch einerseits und Heidegger andererseits deutlich gemacht, was das heißt, daß das Denken vom Leben, von der praktischen Lebenssituation des Menschen, auszugehen hat. Alles Denken ist eine Hochstilisierung dessen, was man im praktischen Leben immer schon tut.«89 ›Hochstilisierung‹ ist hier natürlich positiv gemeint als methodische Verbesserung und Verfeinerung von Messverfahren und Prognosen.
Husserl stellt diesen Vorgang für unser