Qualitätsunterschiede. Ralf Becker

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Qualitätsunterschiede - Ralf Becker Blaue Reihe

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lebensweltlichen Interessen durch epochê entkoppelt hat.

      Wer Husserls Wiener Vortrag »Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit« vom Mai 1935 kennt, weiß, dass er weiter gegangen ist. Da für Husserl die europäische Krise letztlich eine philosophische Krise ist, die »in einem sich verirrenden Rationalismus«121 wurzelt, geht er zu den Anfängen der Philosophie im antiken Griechenland zurück. Die geschichtsteleologische Betrachtung legt er aber nicht intellektualistisch, sondern voluntaristisch an, indem er sich an drei verschiedenen Einstellungen orientiert. Unter einer Einstellung versteht Husserl »einen habituell festen Stil des Willenslebens in damit vorgezeichneten Willensrichtungen oder Interessen«, in dem »das jeweilig bestimmte Leben« verläuft. »In irgendeiner Einstellung lebt die Menschheit (bzw. eine geschlossene Gemeinschaft wie Nation, Stamm usw.) in ihrer historischen Lage immer.«122 Die grundlegende Einstellung ist die natürliche Einstellung des praktischen Weltlebens, in der auch historisch die religiös-mythische Einstellung fundiert ist. Von allen praktischen Interessen sieht dagegen die rein theoretische Einstellung ab, die Husserl für eine genuine Erfindung der griechischen Antike hält. Es ist jener »Wechsel der Interessen«123 der sich von der praktischen Feldmesskunst hin zur reinen Geometrie vollzogen hat, die an die Stelle einer realen Messpraxis die »ideale Praxis eines ›reinen Denkens‹ [setzt], das sich ausschließlich im Reiche reiner Limesgestalten hält«.124 Diese Idealisierung vollzieht sich aufgrund einer »Umstellung des praktischen in ein rein theoretisches Interesse« am »wahre[n]«, »objektive[n] Sein der Welt«,125 unabhängig von praktischen Anwendungsmöglichkeiten.

      Doch mit dieser Gegenüberstellung von Praxis und Theorie hat es nicht sein Bewenden. »Denn es ist noch eine dritte Form der universalen Einstellung möglich […], nämlich die im Übergang von theoretischer zu praktischer Einstellung sich vollziehende Synthesis der beiderseitigen Interessen, derart daß die […] Theoria […] dazu berufen wird […], in einer neuen Weise der Menschheit, der in konkretem Dasein zunächst und immer auch natürlich lebenden, zu dienen. Das geschieht in Form einer neuartigen Praxis, der der universalen Kritik alles Lebens und aller Lebensziele, aller aus dem Leben der Menschheit schon erwachsenen Kulturgebilde und Kultursysteme, und damit auch einer Kritik der Menschheit selbst und der sie ausdrücklich und unausdrücklich leitenden Werte«.126 Auf dieses kritische Interesse verpflichtet Husserl auch die Phänomenologie. »Es möchte mir scheinen, daß ich, der vermeintliche Reaktionär, weit radikaler bin und weit mehr revolutionär als die sich heutzutage in Worten so radikal Gebärdenden.«127

      Radikal ist die Phänomenologie, weil sie an der Wurzel der Krise ansetzt, und revolutionär, weil sie die Enteignung des arbeitenden Subjekts umkehrt: »Indem die anschauliche Umwelt, dieses bloß Subjektive, in der wissenschaftlichen Thematik vergessen wurde, ist auch das arbeitende Subjekt selbst vergessen, und der Wissenschaftler wird nicht zum Thema. (Somit steht, von diesem Gesichtspunkt aus, die Rationalität der exakten Wissenschaften in einer Reihe mit der Rationalität der ägyptischen Pyramiden.)«128 Wer diese Bemerkung zu schnell als bloße Wissenschaftstheorie abtut, verkennt das weitergehende kritische Anliegen, hinter den Erzeugnissen die Subjekte zur Geltung zu bringen, die sie hervorgebracht haben. Mögen diese Erzeugnisse kulturelle Traditionen, wissenschaftliche Theorien oder die ägyptischen Pyramiden sein, als deren Erbauer allenfalls noch die Pharaonen bekannt sind, nicht aber die Heerscharen von Arbeitern und Sklaven, die sie errichteten. In jeder Tatsache steckt eine Tat, und diese darf nicht zugunsten bloßer Funktionalität und vermeintlicher Objektivität den handelnden Personen streitig gemacht werden. Husserls Idee einer universal verantwortlichen Wissenschaft129 hat in diesem Sinn etwas mit Gerechtigkeit zu tun.

      Wissenschaftsphilosophie als Wissenschaftskritik

      Die Kulturphänomenologie besitzt als kritische Wissenschaftsphilosophie ein Gespür für den dialektischen Umschlag der aus der griechischen Aufklärung hervorgegangenen Rationalität in die Irrationalitäten von Positivismus und Naturalismus. Es gibt auch einen geistigen Fetischcharakter der Ware, der sich ganz praktisch auf die Lebensverhältnisse der »Tatsachenmenschen« auswirkt: Allein dasjenige, was sich zählen, messen und berechnen lässt, gilt als rational, weil kontrollierbar. Fragen nach dem, was vernünftig ist, werden dem Meinen überlassen, das erst in der demoskopischen Quantifizierung wieder Objektivität und politische Wirksamkeit erlangt. Phänomenologische Kritik ist demgegenüber als bestimmte Negation positivistischer Ontologien zu begreifen, um die in ihnen enthaltene Unvernunft aufzudecken. Phänomenologische Theoriebildung zielt auf die Praxis und erfolgt in kritischer Einstellung mit einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse. Als kritische Wissenschaftsphilosophie rekonstruiert die Phänomenologie kultureller Praxis den Sinn reiner Theorie aus einer vorwissenschaftlichen Praxis und außerwissenschaftlichen Bedürfnissen.

      In der kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule blieben die Naturwissenschaften unterbelichtet. Wenn Horkheimer den Chiasmus formuliert: »In der bürgerlichen Wirtschaftsweise ist die Aktivität der Gesellschaft blind und konkret, die des Individuums abstrakt und bewusst«130 – dann muss man jedoch die ›bürgerliche Wirtschaftsweise‹ nur durch ›wissenschaftliche Erkenntnis‹ ersetzen, um eine Brücke zur kritischen Wissenschaftstheorie zu schlagen. Bewusst ist dem Individuum nur die eigene Arbeit, nicht dagegen die Einwirkung eines jeweils historisch und gesellschaftlich sedimentierten Denk- und Willensstils. Die hervorgebrachten Elaborate verlieren den Produktcharakter und werden so zu kulturellen, gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Tatsachen.

      Genau diesen Prozess der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache hat der polnische Arzt, Immunologe und Medizinhistoriker Ludwik Fleck in kritischer Absicht nur wenige Monate nach Husserls Wiener Vortrag rekonstruiert (siehe Kap. 9). In einem späten Manuskript über »Crisis in Science. Towards a Free and More Human Science«, das kurz vor seinem Tod entstanden ist, nennt Fleck seinen Ansatz »Drei-Komponenten-Modell«: »Zwischen dem Subjekt und dem Objekt gibt es ein Drittes, die Gemeinschaft. Es ist kreativ wie das Subjekt, widerspenstig wie das Objekt und gefährlich wie eine Elementargewalt.«131 Diese Gemeinschaft nennt Fleck Denkkollektiv, die einen spezifischen Denkstil kultiviert. Gefahr droht von der Erstarrung der denkkollektiven Koproduktion zur scheinobjektiven Widerspenstigkeit gegenüber subjektiver Kreativität. Der Missbrauch solcherart geschaffener ›objektiver Wahrheit‹ zu Propagandazwecken ist nur ein Beispiel für die Krise, in die eine für ihre eigene Genese blinde Wissenschaft gerät. Fleck hingegen will dazu beitragen, dass sich die »wissenschaftliche Wahrheit […] von etwas Starrem und Stillstehendem in eine dynamische, entwickelnde, kreative menschliche Wahrheit wandeln«132 kann. In der »freien und menschlicheren Naturwissenschaft« ist die Aktivität des Denkkollektivs konkret und bewusst.

      Ein Mittel, das die Aktivität des Denkkollektivs konkret und bewusst macht, lässt sich dem von der Konstruktiven Wissenschaftstheorie formulierten Prinzip der methodischen Ordnung entnehmen. Dieser Grundsatz fordert, »in wissenschaftlichen Handlungszusammenhängen – in Analogie etwa zur pragmatisch erforderlichen Reihenfolge von Schritten beim Bau eines Hauses – nur von solchen Mitteln Gebrauch zu machen, die bereits konstruktiv zur Verfügung stehen, und nur solche Resultate zu verwenden, die ihrerseits konstruktiv begründet wurden«.133 Nur dann, »wenn die Rekonstruktion wissenschaftlicher Handlungen sich beschreiben läßt als Folge methodisch aufeinander aufbauender Schritte […], kann von begründeten wissenschaftlichen Aussagen gesprochen werden«.134 Gegen eine Wissenschaftstheorie, die sich als Magd der Wissenschaften versteht und damit begnügt, theoretische Satzsysteme auf ihre formale Kohärenz zu überprüfen, thematisiert die Konstruktive Wissenschaftstheorie »die Handlungen und Verfahrensweisen, die die Formulierung erst ermöglichen«. Im Rekurs auf Janich, Kambartel und Mittelstraß unterscheidet Weingarten zwischen deskriptiver und normativer Wissenschaftstheorie und spricht sich klar für Letztere aus: »Deskriptive Wissenschaftstheorie kann sich also gegenüber vorfindlichen Wissenschaften ausschließlich

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