Qualitätsunterschiede. Ralf Becker

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Qualitätsunterschiede - Ralf Becker страница 10

Qualitätsunterschiede - Ralf Becker Blaue Reihe

Скачать книгу

auch die ausdrücklich formulierten und ›bewährten‹ induktiven Erkenntnisse (die Voraussichten) ›kunstlose‹ sind gegenüber den kunstvollen ›methodischen‹ […] Induktionen.«90 Wissenschaft verdankt sich einer Hochstilisierung lebensweltlicher Praxis91 mit dem Ziel, eine objektive Erkenntnis »für jedermann«92 zu ermöglichen. Ihre Objektivität besteht in Transsubjektivität, das heißt, es kommt nicht darauf an, wer ein bestimmtes (z. B. Mess-)Verfahren anwendet, weil begründet sichergestellt ist, dass es ceteris paribus verlässliche Ergebnisse liefert. In der modernen Experimentalwissenschaft spiegelt sich dieser Transsubjektivitätsanspruch in der Norm, dass Messergebnisse (auch von anderen Forschern) replizierbar sein müssen.

      Lorenzen will zeigen, »daß die theoretische [d. i. erkennende] Vernunft selber ein normatives Fundament hat«. In diesem wohlverstandenen Sinne beginnt die Philosophie damit, praktische »Vernunft in die Wissenschaften zu bringen«.93 Genauer versteht Lorenzen darunter, erstens die Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnis an ihrer Transsubjektivität festzumachen und zweitens diese Transsubjektivität auf die Praxis ihrer Sicherstellung zurückzuführen. Der Anspruch auf objektive, d. h. transsubjektive Geltung wissenschaftlicher Aussagen wird methodisch gesichert durch Experiment, Auswertung von Archivmaterialien und dergleichen mehr. Das Erlanger Programm sieht vor, Wissenschaft als eine Praxis des Redens und Handelns zu rekonstruieren, in der Normen durch Begründung gegenüber Anderen kritisch angeeignet werden.

      Argumente sind, nach einer Formulierung Karl-Otto Apels, »Sinn- und Geltungs-Ansprüche, die nur im interpersonalen Dialog expliziert und entschieden werden können«.94 Eine Behauptung, die mehr ist als eine bloße Meinung, hat demnach prinzipiell die folgende implizite Struktur: Ein Proponent beansprucht gegenüber einem Opponenten mit Gründen die Geltung einer Aussage. Jemand, der eine Behauptung aufstellt, so formuliert den gleichen Gedanken Jürgen Habermas, »muß über eine ›Deckungsreserve‹ guter Gründe verfügen, um erforderlichenfalls seine Gesprächspartner von der Wahrheit der Aussage zu überzeugen und ein rational motiviertes Einverständnis herbeiführen zu können«.95 Diskursive Behauptungen erheben einen Anspruch auf Geltung gegenüber einem Anderen, der dazu berechtigt ist, Gründe für diesen Anspruch einzufordern.

      Es sind nicht nur der diskursive Ansatz und der Begriff des Geltungsanspruchs, die eine Nähe zwischen Konstruktiver Wissenschaftstheorie und Kritischer Theorie begründen. Im Kern verbindet beide die (letztlich Kantische) Überzeugung, dass die Vernunft praktisch ist. Gegen den gemeinsamen Gegner des Positivismus machen sie den Primat praktischer Vernunft geltend. Nachdem Lorenzen und Habermas 1969 in Düsseldorf auf dem Deutschen Kongress für Philosophie zum Kongressthema »Philosophie und Wissenschaft« gesprochen hatten, war sogar von einer »Großen Koalition« zwischen Erlanger und Frankfurter Schule die Rede.96 Die Konstruktive Wissenschaftstheorie ist freilich nicht in Erlangen verblieben. Die Lorenzen-Schüler Jürgen Mittelstraß und Peter Janich gründeten in den 1970er bzw. 1980er Jahren die Konstanzer bzw. Marburger Schule. Janich wählte für seine Weiterentwicklung des Erlanger Programms die Bezeichnung Methodischer Kulturalismus. Den pragmatistischen Ansatz, der theoretisches Kennen aus einem methodischen Können rekonstruiert, ergänzt Janich um die kulturalistische These, dass das methodische Können der Wissenschaften stets in einen kulturellen Kontext eingebettet ist.

      Der Janich-Schüler Michael Weingarten stellt einen Zusammenhang zwischen der kulturalistischen Wende der Konstruktiven Wissenschaftstheorie mit der Husserlschen Phänomenologie her: »Die Wendung vom ›Kennen‹ zum ›Können‹ muß also weitergeführt werden zur Rekonstruktion der Art und Weise der kulturellen Einbettung wissenschaftlichen Tuns; Husserl hat mit seinen Überlegungen zu Wissenschaft und Lebenswelt dazu das Stichwort gegeben.«97 Naturwissenschaften kulturalistisch zu verstehen, bedeutet nach Janich, Kultur nicht naturalistisch zu einem »Teilbereich der Natur« zu erklären, sondern vielmehr umgekehrt, »Natur als Gegenstand menschlicher Praxis, von Ackerbau und Viehzucht bis zum Gegenstandsbereich moderner Naturwissenschaft« zu betrachten.98 Janich weist darauf hin, dass der Kulturbegriff etymologisch (von lat. colere für ›bebauen, bearbeiten, Ackerbau betreiben‹) mit dem Naturbegriff über die Landwirtschaft verbunden ist: Natur ist das vom Menschen nicht Gemachte, auf das sich menschliches Machen zweckorientiert bezieht. Anders formuliert: Natur ist das an den Mitteln Unverfügbare,99 wie z. B. das Wachsen und Gedeihen oder Eingehen und Verdorren der Feldfrüchte. Für den Methodischen Kulturalisten unterscheidet sich dieses Naturverhältnis nicht substantiell von dem der Naturwissenschaften. Auch in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis erscheint Natur als das Unverfügbare an den zu bestimmten Zwecken eingesetzten methodischen Mitteln.

      Der Methodische Kulturalismus neigt mit seinem Primat der Methode vor der Sache allerdings dazu, das Natürliche allzu sehr auf das Widerständige im Gelingen oder Misslingen von Handlungen zu reduzieren. In seiner Erwiderung auf einen Einwurf von Hermann Schmitz stellt Janich den »Widerfahrnischarakter des Gelingens und Mißlingens« als passiven Aspekt »an jeder Einzelhandlung« gegenüber den aktiven Aspekten der Zielsetzung und Mittelergreifung heraus.100 Während sich der Methodische Konstruktivismus stärker mit dem aktiven Handlungsaspekt beschäftigt, steht zumindest in der sogenannten Neuen Phänomenologie eher der passive Aspekt im Fokus. Beide Philosophien, so Janich, arbeiten »an zwei komplementären Aspekten ein und derselben Sache […], an einem philosophischen Verständnis nämlich des Menschen und seiner kulturellen Hervorbringungen«. »Das ›Machen‹ z. B. der Gegenstände von Wissenschaft ist nichts, was einem Roboter oder einer Maschine übertragen werden könnte, sondern ist immer eine aus vielen Einzelhandlungen bestehende Kulturleistung, die ohne den Einfluß des Sensiblen nicht zustande kommen könnte.«101

      Freilich ist Komplementarität leichter gesagt als getan. Nicht jedes Widerfahrnis setzt eine Handlung voraus. Nicht jedes Handeln ist an klare Gelingensbedingungen geknüpft. Die Sache der Kulturphänomenologie: der Mensch und seine kulturellen Hervorbringungen, ist eingelassen in Horizonte, die in Handlungsbegriffen nicht adäquat zu beschreiben sind. Die Konstitutionsanalyse führt, wie bereits erwähnt, auf eine naturale Dimension unmittelbarer, elementarer Bedürfnisse, die wir auch mit Tieren gemeinsam haben. Auf der anderen Seite wirkt die jeweilige Kultur, in der wir leben, wie eine zweite Natur, die jedoch kein »Einfluß des Sensiblen« ist. Der Begriff des Menschen lässt sich nur »in Begriffen menschlicher Kultur« bestimmen.102 Eine Phänomenologie der kulturellen Praxis muss daher ausgehen vom Menschen als »Subjekt-Objekt der Kultur und als Subjekt-Objekt der Natur«.103 Natur und Kultur sind nicht bloße Komplemente; im Menschen sind sie ineinander verschlungen.

      Kulturphänomenologie und Kritische Theorie

      Die an Husserl anschließende Kulturphänomenologie besitzt nicht nur eine Familienähnlichkeit mit der Konstruktiven Wissenschaftstheorie, sondern auch mit der Kritischen Theorie. Weingarten erinnert als Vertreter des Methodischen Kulturalismus daran, dass sich Husserls Diagnose einer Krise der europäischen Wissenschaften mit den Einwänden der Kritischen Theorie deckt.104 Dafür spricht, dass unmittelbar nach Erscheinen der Krisis-Schrift Max Horkheimer im ersten Heft des Jahrgangs 1937 der Zeitschrift für Sozialforschung seine Wertschätzung für die Abhandlung in einer Fußnote von »Der neueste Angriff auf die Metaphysik« zum Ausdruck bringt: »Bei aller Gegensätzlichkeit der Denkart Husserls zu der hier vertretenen Theorie hat seine Altersstudie mit ihrer höchst abstrakten Problematik mehr mit den gegenwärtigen geschichtlichen Aufgaben zu tun als der sich zeitgemäß dünkende Pragmatismus oder das vermeintlich dem ›Mann am Schraubstock‹ angepaßte Reden und Denken mancher jüngeren Intellektuellen, die sich schämen, es zu sein.«105 Da sich seine Arbeit am eigenen Aufsatz mit der Publikation der Krisis überschneidet, kann Horkheimer zwar nur einen flüchtigen Blick in die Neuerscheinung werfen, erkennt in Husserl aber einen Verbündeten gegen die Neopositivisten des Wiener Kreises, namentlich Carnap und Neurath.

      Rudolf Carnap reduziert in einer Reihe von Aufsätzen,

Скачать книгу