Heuschrecken haben keinen König. Helmut Satz
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Neben solchen Formen von tierischer Organisation gibt es aber noch weitere. In Insektenstaaten leben Tausende, mitunter Millionen von Tieren in einer Gesellschaft, in der die verschiedensten Aufgaben ohne jede Leitung, kastenmäßig erledigt werden: Futtersucher, Nestbauer, Brutpfleger, Soldaten – alle gehen „von sich aus“ ihrer Tätigkeit nach, und selbst die „Königin“ herrscht nicht etwa, sondern legt nur Eier. Solche Strukturen müssen sich wohl im Laufe der Zeit genetisch entwickelt haben, durch Vorteile in der Evolution. Bereits Darwin hatte festgestellt, dass so etwas nicht leicht in Einklang zu bringen ist mit der üblichen Vorstellung von survival of the fittest. Es wird also eine Erweiterung des Evolutionsbegriffs notwendig.
Die letzten drei Jahrzehnte haben in der theoretischen Untersuchung von Selbstorganisation und Schwarmverhalten auf einen rasanten Anstieg geführt, durch die Einführung von Computersimulation wie auch ganz allgemein durch die Untersuchung mathematischer Schwarmmodelle. Jedes Jahr erscheinen Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten, in denen anhand mathematischer Modelle das kollektive Verhalten vieler Einzelwesen erklärt werden soll, von Mikroorganismen bis zu Antilopenherden. Gleichzeitig haben Biologen detaillierte, quantitative Studien von verschiedenen Tiergemeinschaften durchgeführt, von Vögeln, Ameisen, Heuschrecken und vielen anderen. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Zugangsrichtungen ist ein neues Forschungsgebiet entstanden, die Erforschung von Schwarmverhalten. Es ist von Haus aus ein interdisziplinäres Gebiet, zu dem Biologie, Physik und Mathematik wesentlich beitragen.
In diesem Buch möchte ich möglichst allgemein, für Nichtspezialisten, die Probleme und Fragen dieses neuen Forschungsgebietes darstellen und zeigen, wie man hofft Antworten zu bekommen. Wir wollen dabei von kollektiven Verhaltensweisen bei Tieren ausgehen und dann, wo möglich, ähnliche Phänomene in der statistischen Physik und entsprechende mathematische Modelle diskutieren. Die wesentlichen Ausgangsthemen sind somit:
Schwarmbildung: Wie entsteht ein Schwarm?
Schwarmstruktur: Wie sind die einzelnen Teilnehmer verbunden?
Schwarmkommunikation: Wie verständigen sich die einzelnen Teilnehmer?
Schwarmkoordination: Wie können sich die einzelnen Teilnehmer synchronisieren?
Schwarmorientierung: Wie legen Kollektive ihre Verbindungswege fest?
Schwarmwege: Welchen Routen folgen Schwärme auf ihren Wanderungen?
Schwarmstaaten: Wie entstehen Schwarmkasten?
Wir werden es bewusst offen lassen, inwieweit auch menschliche Gesellschaften entsprechenden Regeln unterliegen. Wir müssen allerdings mit Staunen feststellen, dass es zum Beispiel in Ameisenstaaten Viehzucht und Landwirtschaft gibt, Unterwerfung anderer Völker und Sklavenhaltung, Berufssoldaten und vieles mehr – alles ohne irgendeine Form von Führung.
Eine Grundfrage für das Entstehen von Schwärmen ist, wie man viele identische Komponenten zu einem zusammenhängenden Ganzen kombinieren kann. Die übliche Methode in unserer Welt geht aus von einem Konstruktionsplan, der angibt, wie man aus vielen Steinen ein Haus baut. In Lebewesen ist ein solcher Plan genetisch eingebaut: Er legt fest, wie eine Pflanze oder ein Tier aus einigen Anfangszellen entsteht. Eine ganz andere und in gewisser Weise komplementäre Methode erhält man, wenn man die Komponenten willkürlich zusammenlegt – indem man etwa ohne jeden Plan, per Zufall, Steine auf die Felder eines Schachbretts legt oder indem man beobachtet, wie aus fallenden Regentropfen eine Pfütze entsteht. Die Untersuchung des Einsetzens eines derart zufällig erzeugten Zusammenhangs, Perkolation ist wiederum ein Gebiet, das erst in den letzten 50 Jahren aufgeblüht ist. Für unsere Fragen ist es offensichtlich von großem Interesse: Die Heuschrecken oder die Vögel in einem Schwarm sind dort nicht nach irgendeinem Plan platziert – sie sind einfach irgendwie dorthin geraten.
Die nächste Frage ist, wie die Komponenten des Schwarms ihre Bewegung koordinieren. Wenn sich Vögel in einem Feld zur Nahrungssuche niederlassen, bewegen sie sich willkürlich umher; einige hierhin, andere dorthin. Werden sie aber erschreckt, dann fliegen sie alle auf und davon in einer gemeinsamen Richtung. Wie bestimmen sie diese Richtung? Zur Lösung dieses Rätsels haben zwei Forschergruppen wesentlich beigetragen, eine theoretisch, die andere experimentell. Im Jahre 1995 haben Tamás Vicsek (Budapest) und Mitarbeiter gezeigt, dass Vogelschwärme im Wesentlichen den gleichen Regeln folgen, wie sie bei der Magnetisierung von Eisen gefunden worden waren. Seitdem haben viele Biologen, Physiker und Mathematiker in fruchtbarer Zusammenarbeit diese Überlegungen bestätigt und erweitert. Insbesondere auf der experimentellen Seite hat eine Gruppe von Physikern und Biologen der Universität Rom durch intensive Untersuchungen von großen Schwärmen von Staren eine sichere empirische Basis für die Strukturerforschung von Vogelschwärmen geschaffen.
Die Frage der Synchronisierung von Schwarmverhalten besteht schon lange, sicher seit man das rhythmische Blinken großer Leuchtkäferansammlungen im asiatischen Urwald beobachtet hatte. Später kam dazu die Feststellung, dass große Heuschreckenschwärme synchron zirpen können. Diese Synchronisierung muss durch eine spezielle, in jedem Tier eingebaute Zeituhr zustande kommen. Es ist jedenfalls nicht möglich, dass ein Tier erst dann blinkt oder zirpt, wenn es das bei einem Nachbarn sieht: Die Synchronisierung findet bis auf eine Tausendstelsekunde statt, was eine Signalfortpflanzung ausschließt. Erst 1990 haben der Mathematiker Steven Strogatz und sein Kollege Renato Mirollo gezeigt, dass die Physik gekoppelter Oszillatoren die präzise Synchronisierung erklären kann. Die perfekte Form dieses Vorgangs wird in der Laserstrahlung erreicht, die auch durch ein simultanes Abstrahlen vieler Einzelemitter entsteht.
Das Entstehen von Tierstraßen, insbesondere von Ameisenpfaden, hat sich auch als ein außerordentlich faszinierendes Thema entwickelt. Durch kollektives Vorgehen können Ameisen schnell und genau den kürzesten Weg zwischen Nest und Futterquelle bestimmen. Die von ihnen benutzten Methoden kann man heute mit Robotern simulieren, was dazu geführt hat, dass ähnliche Algorithmen jetzt auch für Logistikprobleme im Transportwesen benutzt werden. Der kritische Punkt dabei ist, dass man verschiedene Individuen Versuche ausführen lässt und der Schwarm dann die effektivste Lösung übernimmt. So ein Schema funktioniert nur durch das Zusammenspiel vieler Einzelner und benötigt keinen Leiter.
Die Wege von Tieren auf der Erde kann man recht einfach untersuchen. Bei Vogelflug wird das Problem komplizierter, und im Hinblick auf die halbjährlichen Vogelzüge über riesige Entfernungen ist es in der Tat ein Problem; das Gleiche gilt für Fischwanderungen. Hier müssen wir uns nicht nur fragen, wie über solche Entfernungen eine Orientierung möglich wird. Zu dem kommt die Frage, wie der Energieverbrauch bei solchen Leistungen minimiert wird und wie diese Leistungen überhaupt erbracht werden können. Erst seit Kurzem hat die Verfügbarkeit ultraleichter Fluggeräte wie auch die von miniaturisierten elektronischen Sendern es ermöglicht, Vögel in ihren Langstreckenwanderungen zu begleiten und ihr Verhalten zu messen. Eine britisch-österreichische Forschergruppe hat ganz kürzlich bahnbrechende Ergebnisse hierzu veröffentlicht: Sie zeigen, dass die Vögel in der Tat optimale aerodynamische Flugformationen benutzen.
Um die Navigations- und Orientierungsleistungen von Vögeln zu verstehen, hat man in den letzten Jahren verschiedene „Versetzungsexperimente“ durchgeführt, also mit GPS-Sendern ausgestattete Vögel um größere Entfernungen versetzt, um zu sehen, wie die Tiere sich unter solchen Bedingungen wieder zurechtfinden. Man hat dabei verschiedene Referenzgrößen untersucht: Sonnenstand, Sternbewegung, das Magnetfeld der Erde. Trotzdem ist bis heute nicht so recht klar, wie ein aus England in einem geschlossenen Kasten per Flugzeug nach Amerika transportierter Seevogel es fertig bringt, in zwölf Tagen wieder zuhause zu sein ...
In den letzten Kapiteln des Buches betrachten wir Insektenstaaten. Es zeigt sich, dass viele „Errungenschaften“ der menschlichen Gesellschaft tatsächlich auch in Insektengemeinschaften vorhanden sind, die aus weitaus mehr Mitgliedern bestehen als unsere. In