Heuschrecken haben keinen König. Helmut Satz
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Die Schwarmbildung bei sozialen Insekten hat im Laufe der Evolution dazu geführt, dass die Individuen, aus denen die Schwärme bestehen, grundsätzlich verändert wurden. Ein Vogelschwarm oder eine Antilopenherde besteht immer noch aus Einzeltieren, die ein eigenständiges Leben führen: Es gibt Männchen und Weibchen, die sich ernähren, sich paaren und Junge aufziehen. Im Gegensatz dazu bilden die Mitglieder von Insektenstaaten wohldefinierte Kasten mit wohl definierten, speziellen Funktionen. Es gibt nur eine Königin, die alle Jungen zur Welt bringt, mithilfe von Drohnen, die nur eine Funktion haben: sich mit der Königin zu paaren; danach sterben sie. Sie können sich nicht einmal selbst ernähren – sterile weibliche Arbeitertiere füttern sie. Die Grundregel der Darwin’schen Evolutionstheorie, dass die Tüchtigsten überleben, scheint aufgehoben. Es ist egal, wie gut die weiblichen Arbeiter ihre jeweiligen Funktionen erfüllen – Nestbau, Nahrungsbeschaffung, Larvenversorgung – sie werden nie Kinder haben, die ihre Fähigkeiten erben. Und weder die Königin noch die Drohnen haben solche Fähigkeiten je zeigen müssen. Wie kann so eine Schwarmstruktur entstehen? Die Antwort, wie wir sehen werden, liegt in der abgeänderten genetischen Erbstruktur der Schwarmmitglieder.
Wie wir sehen, hat sich die Untersuchung der Struktur und Funktionsweise von Schwärmen zu einem außerordentlich interessanten Forschungsgebiet entwickelt; ein Gebiet, in dem sich Biologie, Physik und Mathematik treffen, um uns ein Verständnis von Vorgängen zu liefern, die auf den ersten Blick wahrhaft wundersam erscheinen. Ich hoffe, dass dies Gefühl des Wundersamen auch dann noch bestehen bleibt, wenn wir etwas mehr verstehen wie die Vorgänge zustande kommen.
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Die achte Plage
So will ich Heuschrecken kommen lassen an allen Orten, dass sie das Land bedecken und alles fressen.
2. Mose 10,4/5
Aus der Wüste sind schon viele Völker hervorgegangen; zahlenmäßig jedoch können es die Heuschrecken wohl mit allen aufnehmen. Seit Menschengedenken haben Milliarden mit ihren Schwärmen den Himmel verdunkelt, so waren sie bereits die achte biblische Plage in Ägypten. Der Herr sprach zu Mose, recke deine Hand über Ägypten, dass die Heuschrecken kommen sollen und fressen alles Kraut im Lande, und des Morgens führte der Ostwind die Heuschrecken her. Und sie kamen über ganz Ägypten, und ließen sich nieder an allen Orten, so sehr viel, dass zuvor dergleichen noch nie gewesen ist noch hinfort sein wird. Denn sie bedeckten das Land und verfinsterten es. Und sie fraßen alles Kraut im Lande auf und alle Früchte auf den Bäumen, und ließen nichts Grünes übrig an den Bäumen und am Kraut auf dem Felde in ganz Ägypten.
Es gibt wohl kaum Zeitzeugen von diesem Ereignis – wohl aber von späteren und ansonsten ähnlichen Vorkommnissen. Eine der größten dokumentierten Heuschreckeninvasionen fand gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Amerika statt. Damals überfielen riesige Schwärme der sogenannten Rocky-Mountain-Heuschrecke (Abb. 2.1) die Präriestaaten der USA, und über diesen Vorfall wurde sehr ausführlich berichtet, unter anderem auch von den dortigen Landwirtschaftsbehörden. Danach hat im Jahr 1875 ein Schwarm von 12,5 Billionen dieser Heuschrecken den Mittleren Westen heimgesucht, die größte bisher dokumentierte Ansammlung von Tieren. Die Anzahl der Heuschrecken in diesem einen Schwarm ergibt das etwa Zweitausendfache der gesamten heutigen menschlichen Weltbevölkerung. Der Schwarm hatte eine Länge von über 2000 und eine Breite von 175 km. Die Tiere zogen durch das Land wie ein Schneesturm und fraßen alles fressbare, einschließlich Decken und Bekleidung.
Die amerikanische Schriftstellerin Laura Ingalls Wilder, auch in Deutschland als Kinderbuchautorin bekannt (Unsere kleine Farm), war Zeugin des Heuschreckeneinfalls auf ihrer Farm und schrieb: Die Wolke hagelte Heuschrecken. Die Wolke bestand aus Heuschrecken. Ihre Körper verdeckten die Sonne und brachten uns Dunkelheit. Ihre dünnen, langen Flügel funkelten und glitzerten. Das schnarrende Schwirren dieser Flügel erfüllte die ganze Luft, und die Tiere prallten auf die Erde und auf das
Abb. 2.1 Rocky-Mountain-Heuschrecke (Melanoplus spretus).
Haus mit dem Getöse eines Hagelsturms. Innerhalb von Stunden fraßen sie alles auf, was die Farmer besaßen. Auch Laura Ingalls Wilders Familie verlor alles, und ihr Vater musste anschließend mehrere Jahre lang auf Farmen arbeiten, die außerhalb des Heuschreckendurchzugs lagen.
Milliarden Heuschrecken haben seitdem im Laufe der Zeit immer wieder die Felder aller Kontinente leer gefressen; seit 2000 hat es in Argentinien, Brasilien, Israel und der Sahelzone Afrikas riesige Invasionen gegeben. Deshalb müssen jedes Jahr viele Länder in Afrika und in Südamerika einen beträchtlichen und heute weiter steigenden Teil ihres Einkommens für die Heuschreckenverteidigung einsetzen. In den gerade vergangenen Jahren sind auf Madagaskar Schwärme mit bis zu 500 Milliarden Tieren eingefallen. Da jedes Tier pro Tag etwa das Doppelte seines Körpergewichts vertilgt, fallen den Schwärmen täglich über 100 000 t Pflanzen zum Opfer; das kann die Nahrungsgrundlage der gesamten Bevölkerung zerstören. Was sind das für Tiere?
Eine Heuschrecke ist zunächst ein ungeselliges Wesen, das den Kontakt zu Artgenossen scheut und friedlich seiner Wege geht. Heuschrecken paaren sich und trennen sich dann wieder. Das Weibchen legt Eier, und aus diesen gehen Larven hervor (die Biologen sprechen von Nymphen), die bereits wie richtige kleine Grashüpfer aussehen, nur dass ihre Flügel kaum entwickelt sind. Im Laufe der Zeit, in einigen Wochen, werden sie sich noch etliche Male häuten, bevor sie schließlich als vollständig erwachsen auch Flügel haben und fliegen können (Abb. 2.2). Schon die noch flugunfähigen Nymphen aber wandern bereits umher und suchen pflanzliche Nahrung, Gräser und Blätter.
Problematisch wird das Ganze erst durch eine hin und wieder auftretende Verkettung von klimatischen Umständen. Wenn in den Lebensgebieten der Heuschrecken, etwa den trockenen Steppen in Nordafrika oder Vorderasien, ungewöhnlich starke Regenfälle plötzlich eine üppige Vegetation entstehen lassen, so explodiert die Heuschreckenpopulation. Aus den Eiern, die zunächst im trockenen Sand abgelegt waren, schlüpfen in dem nun feuchten Grund in kurzer Zeit riesige Mengen von Heuschrecken. Diese fressen als Larven alles Verfügbare um sich herum, und irgendwann wird damit die Nahrung knapp. Dann bringt die Suche notgedrungen mehr und mehr Tiere auf immer engerem Raum zusammen. Zunächst stößt das auf gegenseitige Abneigung, aber schließlich, wenn mehr als etwa 70–80 Heuschrecken auf einem Quadratmeter zusammengedrängt sind, geschieht plötzlich eine ganz dramatische Verwandlung. Aus der starken Abneigung wird eine intensive Zuneigung, aus der solitären Heuschrecke wird ein überzeugtes Schwarmtier: Alle drängen sich zusammen, und sobald sich ein Tier zufällig vom Schwarm entfernt, dreht es erschreckt um und kehrt zurück. Der Schwarm ist geboren, ausgelöst, wie es scheint, nur durch die kritische Dichte der Tiere.
Abb. 2.2 Entwicklung einer Heuschrecke von der Larve („Nymphe“) bis zum ausgewachsenen Tier.
Natürlichmussesdabei auch noch einen nachweisbaren physiologischen Auslöser für den plötzlichen Charakterumschwung geben, und den haben Wissenschaftler inzwischen tatsächlich identifiziert. Die Anwesenheit und Berührung von vielen nächsten Nachbarn löst in den Tieren einen Serotoninstoß aus, der Entspannung und Anziehung hervorruft – in der Presse wurde Serotonin zeitweilig als das Glückshormon