Heuschrecken haben keinen König. Helmut Satz
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Diese beginnt im Larvenstadium – bereits die noch flugunfähigen Tiere bilden Schwärme, „ziehen aus in geordneten Scharen“, marschieren durch das Land und fressen alles Pflanzliche in ihrem Wege auf. Nach der letzten Häutung sind sie dann flugbereit und überfallen von nun an als fliegende Schwarmwolken nah und fern ganze Landstriche: Die biblische Plage hat begonnen. Und sie setzt sich auch fort, denn die serotoninreichen Heuschrecken erzeugen wiederum serotoninreiche Kinder, die ihrerseits Schwärme bilden. Aus diesem Grunde hatte man zunächst Heuschrecken in zwei Spezies eingeteilt, solitäre Grashüpfer und schwarmbildende Wanderheuschrecken. Das war insofern naheliegend, als dass sich selbst das Aussehen der Tiere in den beiden Lebensformen unterschied; mit der Charakterumwandlung ändert sich auch die Farbe der Tiere. Die Solitärform war grünlich, wie unsere Heuschrecken, während die Wanderheuschrecke gelb wurde: Das schienen zwei verschiedene Arten zu sein. Erst mit der Zeit wurde klar, dass es sich in der Tat nur um eine Art dreht, die in zwei verschiedenen Zuständen existiert, in Abhängigkeit von ihrer Bevölkerungsdichte, und dass Übergänge vom einen in den anderen Zustand möglich waren.
Inzwischen hat man viele Spezies von Heuschrecken identifiziert, auf allen Kontinenten der Erde (außer der Antarktis), und alle zeigen diese angeborene Möglichkeit, in zwei gänzlich verschiedenen Zustandsformen zu existieren. Die Dichte der Mitglieder bestimmt den biologisch definierten Zustand und damit auch das Aussehen des Einzelnen. Um die kritische Dichte genauer zu bestimmen hat eine Gruppe von Wissenschaftlern (J. Buhl et al. 2006) ein ausführliches Experiment mit Nymphen durchgeführt, also Heuschrecken, die noch nicht fliegen konnten. Verschiedene Anzahlen dieser Tiere wurden in eine kreisförmige Arena gesetzt und mithilfe von Videokameras und Computern über längere Zeiträume beobachtet. Man fand dabei, dass bis zu Dichten von 10–15 Tieren pro Quadratmeter die Einzeltiere willkürlich umherkrochen und einander überhaupt nicht beachteten. Wenn die Dichte erhöht wurde, begannen die Insekten kleine Gruppen zu bilden, wobei sich die Mitglieder der Gruppe in einem kleinen Kreis bewegten; alle liefen in die gleiche Richtung. Die verschiedenen Gruppen bewegten sich jedoch völlig unabhängig voneinander. Dieses Verhalten änderte sich erst ab etwa 75 Insekten pro Quadratmeter. Von da an fanden sich die verschiedenen Gruppen zu einem großen Kreis zusammen, und alle marschierten nun in diesem Kreis in der gleichen Richtung für die gesamte Dauer des Experiments.
Um die Schwarmbildung etwa zu untersuchen, ist es nützlich, das eben erwähnte Ergebnis etwas zu quantifizieren (Abb. 2.3). Die Heuschrecken bewegten sich in einer runden Arena, und dabei liefen Nc im Uhrzeigersinn und Ncc im entgegengesetzten Sinne, sodass Nc + Ncc = N. Die Differenz Nc − Ncc gibt uns dann an, ob eine bevorzugte Richtung vorliegt, und wenn wir diese Differenz durch die Gesamtzahl der Teilnehmer teilen, erhalten wir ein Maß für so eine Ordnung,
Die vertikalen Striche, wie bei |x|, deuten hier an, dass wir uns nur für die größe der Differenz interessieren und nicht, ob sie positiv oder negativ ist: In mathematischer Terminologie betrachten wir den Absolutwert. Wenn sich die einzelnen Tiere oder die einzelnen Gruppen willkürlich umherbewegen, marschieren gleich viele im Uhrzeigersinn wie entgegengesetzt, sodass Δ = 0. Im anderen Extremfall, wenn alle Tieren in die gleiche Richtung laufen, haben wir Δ = 1. Bei vollständiger Unordnung ist somit Δ = 0, bei vollständiger Ordnung Δ = 1. Wenn man nun das Verhalten der Heuschrecken als Funktion der Anzahl von Tieren pro Quadratmeter aufträgt, so erhält man den in Abb. 2.3 dargestellten Verlauf des Ordnungsmaßes, mit einem plötzliche Einsetzen der Schwarmbildung bei etwa 75 Tieren. So ein Verhalten ist in der Physik wohlbekannt. Die Dichte von Wasser ändert sich schlagartig bei 100 °C: Dort verwandelt die Verdampfung die Flüssigkeit in Wasserdampf. Solche Vorgänge bezeichnet man allgemein als Phasenübergänge; sie zeigen an, dass sich die Form der Materie von einem Zustand (Flüssigkeit) in einen anderen (Gas) umgewandelt hat. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, erfahren die Heuschrecken bei einer Dichte von 75 Tieren pro Quadratmeter einen Phasenübergang vom Einzeldasein zum Schwarm.
Abb. 2.3 Ordnungsmaß Δ als Funktion der Anzahl N von Insekten pro Quadratmeter (nach Buhl et al. 2006).
Es gibt dabei also einen tipping point, einen Dichtewert, bei dem sich alles ändert. Wie kann so etwas zustande kommen? Der Übergang von solitärer Existenz zum geselligen Schwarmleben bei Heuschrecken ist offensichtlich ein biologischer Vorgang, eine Änderung im Verhalten von Lebewesen. Aber das Entstehen zusammenhängender, dicht gepackter Haufen von Einzelteilen ist etwas eher Geometrisches. Kann man das Entstehen von Verbindungen, von Zusammenhang irgendwie als ein mathematisches Modell formulieren? Das wollen wir jetzt als Erstes näher untersuchen. In weiteren Kapiteln werden wir dann anhand anderer Tierarten darauf eingehen, wie eine Kommunikation zwischen den einzelnen Mitgliedern des Schwarms möglich ist und wie sich ein Schwarm in seiner Fortbewegung koordinieren kann.
3
Das Entstehen von willkürlicher Verbindung
E pluribus unum (Aus vielen wird eines)
Wappenspruch der Vereinigten Staaten von Amerika
Große Gebilde sind meist aus kleineren zusammengesetzt, mit einem Bauplan. So bestehen Häuser aus Bausteinen und Materie besteht aus Atomen, die wiederum aus einem Kern und diesen umkreisenden Elektronen. In diesen und einer Vielzahl ähnlicher Fälle gibt es klare Vorgaben, wie das Zusammenfügen zu geschehen hat. Hier wollen wir aber eine grundsätzlich andere Form von Verknüpfung betrachten: Wie können aus vielen gleichen Einzelteilen zusammenhängende Gebilde entstehen, wenn diese Einzelteile vollkommen willkürlich verteilt werden, zusammengewürfelt ohne irgendeinen Plan? Gibt es da doch noch zuständige Gesetze?
Bereits 2500 Jahre vor Christi entstand in China ein Spiel, das heute als das älteste aller Brettspiele gilt: das meist mit seinem japanischen Namen bezeichnete Spiel Go. Auf einem Brett von 19 × 19 Quadraten (es gibt auch kleinere) werden auf die Schnittpunkte Steine gesetzt; ein Spieler hat weiße, der andere hat schwarze. Einmal gesetzte Steine dürfen nicht mehr bewegt werden; nur wenn eine Gruppe von Steinen der einen Seite vollständig von denen der anderen umzingelt ist, werden die betroffenen Steine entfernt. Der Sieger dieses Spiels ist derjenige, der am Ende über die größten von ihm beherrschten Bereiche verfügt. Natürlich darf der Sieger seine Steine nicht willkürlich setzen, die Gewinnstrategie ist noch viel komplexer als die bei Schach, und erst vor drei Jahren (bei Schach schon vor 20 Jahren) hat ein Computer den besten Go-Meister besiegt.
Wir können uns aber auch eine planlose, stochastische Form des Go-Spiels vorstellen. Wenn man die Steine willkürlich auf das Brett stellt, wie viele sind dann notwendig, um eine Seite des Bretts mit der anderen zu verbinden? Oder, in anderen Worten, bei wie vielen Steinen wird das Brett in zwei getrennte Bereiche geteilt? Das, im Gegensatz zum eigentlichen Go-Spiel, ist eine Frage an die Mathematik, und obwohl das Ganze so einfach erscheint, gibt es bisher keine klare mathematische Antwort: Man kann das nur auf Computern durchspielen, und dann findet man, dass wenn etwa 56 % der Schnittpunkte besetzt sind, im Mittel eine Verbindung besteht. Kurioserweise kann man eine Variante, in der die Steine nicht auf die Schnittpunkte, sondern auf die Verbindungslinien gesetzt werden, auch exakt berechnen, und hier ist der kritische Wert 50 %. Das Spiel selbst aber zeigt uns, dass die eingangs gestellte Frage,