Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte. Wolfram Hanel
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»Wo war ich stehengeblieben?«, fragt Kerschkamp. »Ach ja, ich weiß schon wieder, Schröders Freunde. Da unten, habe ich alles gesammelt…«
Er zeigt auf die Matte vor Appaz’ Füßen, auf der sich noch mehr Zeitungsartikel stapeln.
»Alles! Wie Schröder zu seinem Geburtstag mit Gottschalk und Karl Dail und natürlich wieder dem singenden Panzerjäger Tischfußball gespielt hat. Und wie irgendein Sternekoch in einem Luxusschrebergarten Bratwürstchen für die Frogs gegrillt hat. Luxusschrebergarten, achte drauf, Alter! Und wie Schröder auf einer Party für den Finanzoptimierer mit Veronica Ferres und Ex-Spice Girl Mel C. …«
»Was soll das eigentlich?«, unterbricht ihn Appaz, während er nervös beobachtet, wie sich der Volvo schon wieder bedenklich den Straßenbahnschienen nähert. »Warum sammelst du das ganze Zeug?«
»Alles Material für ein neues Buch! Wir machen mal was ganz anderes, habe ich mir überlegt, wollte ich dir eigentlich neulich schon erzählen, aber dann warst du ja plötzlich echt weggetreten. Mann, du hattest vielleicht einen im Kahn! Aber ich auch. Aber ist ja auch egal, der Titel steht jedenfalls schon, für unser Buch, meine ich. Frogs, ist ja klar, in Großbuchstaben, F-R-O-G-S, und wir nehmen uns alle vor, jeden Einzelnen von ihnen, die ganze Bande, auch Heinz Rudolf! Schon gut, sag nichts, ich weiß, dass der nicht zu den Freunden von Schröder gehört, aber andererseits irgendwie doch wieder, verstehst du? Er muss jedenfalls unbedingt mit rein in unser Buch …«
»Warte mal«, sagt Appaz in der durchaus berechtigten Sorge, dass Kerschkamp gleich auch noch auf die angeblich getönten Haare des Ex-Kanzlers oder seine frühere Vorliebe für die Currywürste im Voss kommt. »Wer soll das Ganze hinterher lesen? Wenn wir ein neues Buch machen, sollte es schon irgendwas sein, das wenigstens ein paar Leute interessiert.«
»Wie, wer soll das hinterher lesen? Die ganze Republik natürlich! Das wird für Monate ganz oben auf der Spiegel-Liste stehen, das sage ich dir, du.«
»Aber das interessiert keinen«, wiederholt Appaz. »Außer vielleicht ein paar Leute in Hannover. Sonst gibt es sowieso niemand mehr, der Heinz Rudolf noch kennt.«
»Was?«
Kerschkamp zieht den Volvo mit quietschenden Reifen nach rechts und bringt ihn mit dem Vorderrad auf der Bordsteinkante zum Stehen.
»Du meinst, die Leute kennen Heinz Rudolf Kunze nicht mehr?«, fragt er entgeistert.
»Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert«, sagt Appaz.
»Warte mal!«, ruft Kerschkamp. »Das ist doch gar nicht von Heinz Rudolf, das ist doch von …«
»Eben. Aber es interessiert sowieso keinen mehr, das meine ich damit.«
»Aber die Scorpions, Alter!«, setzt Kerschkamp wieder an.
»Auch schon länger her, oder?«
»Mann, du kannst einen aber auch echt fertig machen.« Kerschkamp haut mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Und Schröder, fällt dir dazu auch irgendwas ein?«
»Nur dass ganz bestimmt keiner wissen will, ob er mit irgendwelchen Rechtsanwälten Tischfußball spielt.«
»Vielleicht hast du recht«, gibt Kerschkamp nach kurzem Zögern zu. »Ist nur schade eigentlich. Ist eine Menge gutes Material dabei, du, das kannst du mir glauben …«
Ein bisschen wehmütig blickt er auf die Zeitungsausschnitte zu Appaz’ Füßen und auf dem Armaturenbrett. »Aber die Sache ist noch nicht vom Tisch, Alter, lass uns da trotzdem nochmal drüber nachdenken …«
»Apropos Rechtsanwälte«, hakt Appaz schnell ein, weil er befürchtet, dass Kerschkamp sich sonst unerbittlich an dem einmal gefundenen Thema festbeißt, »apropos Rechtsanwälte«, sagt er also, »was meinst du, wie viel Leute von uns werden wohl Rechtsanwälte geworden sein?«
»Keine Ahnung. Nurminski ist Kinderpsychologe, das hat mir irgendjemand erzählt. Und Buchmann ist Lehrer geworden, glaube ich jedenfalls. Aber Rechtsanwalt? Keine Ahnung«, wiederholt Kerschkamp. »Höchstens Nolle vielleicht, der hatte schon damals irgendwas Perverses …«
»Nölle«, korrigiert Appaz und schüttelt den Kopf. »Nölle ist Pathologe geworden.«
»Ach, echt? Na ja, sag ich doch, passt doch. Aber das werden wir ja gleich hören, was der Rest so macht. Versicherung wahrscheinlich. Oder Bank. Und jede Menge Computer-Fuzzis, aber irgendeiner ist auch garantiert Rechtsanwalt. Trotzdem, Alter«, ruft er dann und haut Appaz begeistert aufs Knie, »ich wette, die Einzigen, die immer noch lange Haare haben, sind wir beide!«
Kerschkamp fädelt sich wieder in den fließenden Verkehr ein, indem er einfach den linken Arm aus dem Fenster hält und Gas gibt.
Als Ray Davies »I’m not like everybody eise« singt, stellt Appaz die Musik noch lauter, als sie ohnehin schon ist. Aber so hört er wenigstens das wütende Gehupe hinter ihnen nicht mehr.
Sie sind tatsächlich auf dem Weg zu diesem Klassentreffen, von dem Kerschkamp im Voss erzählt hat. Gleich am nächsten Tag hat er noch mal bei Appaz angerufen und so lange ein mehr oder weniger haarsträubendes Argument nach dem anderen vorgebracht, bis Appaz schließlich zusagte, wenn auch mit deutlich gemischten Gefühlen. Die Zeit auf dem Gymnasium war nicht gut gewesen, und er sah eigentlich keinen Grund dafür, das alles noch mal aufzuwärmen. Andererseits reizte es ihn plötzlich, ein paar Leute von früher wiederzusehen. Und zusammen mit Kerschkamp könnte das Ganze vielleicht sogar Spaß machen. Hat er neulich am Telefon noch gedacht.
Jetzt ist er sich nicht mehr so sicher. Kerschkamp scheint nicht gerade sonderlich gut drauf zu sein. Appaz kennt solche Phasen bei ihm schon, immer wenn Kerschkamp irgendwelche Probleme hat, neigt er dazu, anderen unbedingt die Welt erklären zu wollen. Und die Idee jetzt mit dem Buch über Schröder und Schröders Freunde aus der Boulevard-Presse läuft genau in diese Richtung. Kerschkamp regt sich über irgendetwas auf, was eigentlich völlig ohne Bedeutung ist, und will gleich blindlings um sich schlagen: Wir nehmen sie uns alle vor, jeden Einzelnen von ihnen! Aber wozu, denkt Appaz, es ist ein Unterschied, ob wir uns abends in der Kneipe darüber einig sind, dass in den letzten zehn oder zwanzig Jahren ein paar Sachen deutlich aus dem Ruder gelaufen sind, ohne dass wir es eigentlich so richtig mitgekriegt haben, oder ob wir deswegen gleich alle von unserer Sicht der Dinge überzeugen wollen. Und wenn, dann bestimmt nicht mit einem Buch über den Ex-Kanzler und den singenden Panzerjäger, von Heinz Rudolf mal ganz zu schweigen. Das ist kleinlich und riecht verdammt nach Frustration, denkt er, und womöglich nach Neid. Das haben sie nicht nötig. Sie haben es ja beide hingekriegt, sie schaffen ganz gut den Spagat, das nötige Geld zum Leben zu verdienen, ohne ihre Haltungen aufzugeben. Und dass sie sich hartnäckig allem verweigern, was nach Karriere riecht, das wollen sie so und können es wahrscheinlich auch gar nicht anders. Also haben sie auch keinen Grund, sich zu beschweren, nicht wirklich jedenfalls. Andererseits ist es wichtig, die Wut zu behalten und immer wieder das Maul aufzumachen, da hat Kerschkamp schon recht. Sonst würden sie über kurz oder lang entweder einfach nur resignieren oder in selbstgefälliger Versunkenheit Whiskey schlürfend vor dem offenen Kaminfeuer sitzen, das sie beide nicht haben …
Drei Romane hat Appaz bisher abgeliefert, zwei Theaterstücke, zwei Hörspiele. Von denen das eine immerhin einen Preis gewonnen hat, der ihm ermöglicht hat,