Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte. Wolfram Hanel
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»Ich bin nicht drangekommen. Mein Name war nicht dabei.«
»Wie heißt du?«
»Klaus-Dieter …«
»Nachname!«
»Brennecke. Klaus-Dieter Brennecke.«
Dr. Siegfried überflog erneut die Namensliste.
»5d«,erklärte er mit einem Gesichtsausdruck, als wäre es die Schuld des Jungen, dass er ihn vergessen hatte.
»Dann bin ich bei euch«, flüsterte Klaus-Dieter und wirkte deutlich erleichtert.
Appaz versuchte, so was wie ein Grinsen zustandezubringen, obwohl ihm nicht nach Grinsen zumute war und er Klaus-Dieter mit seinen abgebissenen Fingernägeln auch nicht unbedingt mochte, geschweige denn zum Freund haben wollte.
Oberstudienrat Löffler trat vor und hielt die Hände wie einen Trichter vor seinen Mund: »Fünfte Dora, antreten!«, brüllte er über die Sitzreihen hinweg.
»Das sind wir«, sagte Kerschkamp.
Sie nahmen ihre Schulranzen und drängten sich aus der Reihe.
»Fünfte Dora, Abmarsch!«, brüllte Löffler, als sie vollzählig waren, und sie folgten ihm - wiederum in ordentlicher Zweierreihe - aus der Aula hinaus und quer über den Pausenhof. Appaz und Kerschkamp bildeten das Schlusslicht, Klaus-Dieter war ein Stück weiter vorn gelandet.
Unter dem einzigen Baum auf der geteerten Fläche stand ein Denkmal, ein einfacher Stein mit der Aufschrift: »Unseren Toten«. Davor lagen zwei Kränze, deren Blumen lange schon verwelkt waren.
Als sie den Seitenflügel betraten, in dem sich ihr Klassenraum befand, merkte Appaz, dass er seine Jacke in der Aula vergessen hatte. Ohne zu überlegen, scherte er aus der Reihe aus und rannte zurück, gerade noch, dass er Kerschkamp zurief: »Ich hab meine Jacke vergessen, bin gleich wieder da!« In der Pausenhalle kam ihm die nächste Klasse entgegen, sie wurde von der Lehrerin angeführt, die Appaz mit einem raschen Schritt zur Seite stoppte und ihm zwei schallende Ohrfeigen verpasste: »Hier wird nicht gerannt! Das Rennen ist im gesamten Schulgebäude verboten!«
»Aber …«, stotterte Appaz entgeistert und hielt sich die brennende Wange, »ich wollte doch nur … ich habe meine Jacke in der Aula vergessen, tut mir leid.«
»Merk es dir einfach«, sagte die Lehrerin, ohne auf Appaz’ Erklärung zu reagieren, »beim nächsten Mal schreibst du die Hausordnung ab und meldest dich beim Direktor!«
Appaz’ Jacke lag noch auf seinem Stuhl, aber natürlich kam er zu spät in die Klasse, alle anderen saßen schon. Oberstudienrat Löffler zeigte wortlos auf den freien Platz neben Klaus-Dieter. Gleich in der ersten Reihe ganz links außen. Die Sitzordnung folgte der alphabetischen Abfolge ihrer Namen, Appaz war der einzige Schüler, dessen Name mit A begann, nach Brennecke kam Buchmann.
2
Als Appaz in Kerschkamps verbeulten Volvo einsteigt, dröhnen ihm die Kinks entgegen: »Everybody’s a dreamer, everybody’s a star …« Und anstelle irgendeiner Form von Begrüßung legt Kerschkamp sofort mit einem seiner erklärten Lieblingsthemen los - dass die Kinks das beste Beispiel dafür sind, dass die Scorpions nichts taugen. Egal wie fragwürdig Kerschkamps Schlussfolgerung auch sein mag, entbehrt sie doch nicht einer gewissen Logik: »Du brauchst nur ein einziges Mal Zelluloid Heroes< von den Kinks hören, um zu begreifen, dass >Wind of Change< keine Rockballade, sondern bestenfalls billige Autoscooter-Musik ist«, regt er sich auf, während er gleichzeitig den Gang reinwuchtet und Gas gibt.
Appaz nickt nur. Kerschkamps Begeisterung für Ray Davies und die Kinks ist genauso bekannt wie die Tatsache, dass die Scorpions auf seiner persönlichen Worst-of-Music-Liste womöglich sogar noch vor Heinz Rudolf Kunze rangieren. Aber die Geschichte, die Kerschkamp gleich darauf zum Besten gibt, ist auch für Appaz neu.
»Da war ich Ostern mit Susanne und den Kindern zum Skilaufen«, erzählt er, »wieder da in Österreich, du weißt schon, wo wir immer hinfahren. Und dann hocken wir auf irgend so einer Berghütte und lassen uns die Ohren zudröhnen von dem Mist, den sie da immer spielen. Und jetzt halt dich fest, erst kommt >Meiner hat zwanzig Zentimeter oder so was und dann >Wind of Change<. Da hast du es doch, genau das ist es, was ich meine!«, erklärt er, während er einem Radfahrer rücksichtslos die Vorfahrt nimmt, »Bumsmusik, nichts anderes! - Hier, lies dir den Scheiß doch mal durch …«
Kerschkamp zeigt auf die Stapel aus einzelnen Zeitungsseiten, die auf dem Armaturenbrett liegen. Als Appaz ihn verständnislos ansieht, beugt er sich vor und wühlt mit einer Hand zwischen den Ausschnitten, bis er gefunden hat, was er sucht. »Hier, das ist echt der Hammer! Lies mal!«
Er hält Appaz einen Artikel hin und reißt gleichzeitig das Lenkrad herum, um schlingernd auf die Hauptstraße einzubiegen.
Appaz klammert sich am Türgriff fest. Er ist lange nicht mehr mit Kerschkamp im Auto unterwegs gewesen und hat fast vergessen, dass Kerschkamps Fahrstil einiges zu wünschen übrig lässt. Wenn auch der Volvo im Gegensatz zu ihrem alten VW-Bus von damals selbst grobe Fahrfehler gutmütig zu verzeihen scheint. Wäre ich bloß selber gefahren, denkt Appaz dennoch, und: Wenn er so weitermacht, muss ich irgendwas sagen, auch auf die Gefahr hin, dass er dann sauer ist. Aber ich habe keine Lust, am nächsten Laternenpfahl zu landen!
»Lies mal!«, wiederholt Kerschkamp, nachdem er den Volvo von den Straßenbahnschienen zurück auf die Fahrbahn gezwungen hat. »Die wichtigsten Stellen habe ich angestrichen …«
Es geht um irgendeinen Bericht aus der hannoverschen Tageszeitung, der überschrieben ist mit »Der Soundtrack für die Revolution«. Darunter sind ein Bild von den Anfängen der Scorpions in den sechziger Jahren und ein Interview mit Klaus Meine, wie er das Jahr 1968 als Panzerjäger bei der Bundeswehr in Schwanewede bei Bremen erlebt hat.
Kerschkamp hat einzelne Sätze aus Meines Antwort dick mit einem gelben Filzstift markiert.
»Ich war nicht der Typ, der sich mit allen Mitteln um diese Verantwortung drückte«, fängt Appaz an zu lesen. Weiter kommt er nicht.
»Alles klar?«, fragt Kerschkamp. »Der ist auch noch stolz darauf, dass er beim Bund war! Ich habe mich nicht um diese Verantwortung gedrückt! Das ist doch unglaublich. Der sagt doch nichts anderes als dass alle, die den Scheiß nicht mitgemacht haben, Drückeberger waren. Und das sagt er heute noch, das ist das Schlimmste daran! Damit macht er alles platt, was damals an guten Sachen gelaufen ist. Und außerdem ist er ein Frog!«, setzt er hinzu und bringt den Volvo im letzten Moment vor einer Ampel zum Stehen, die schon seit geraumer Zeit Rot zeigt.
»Ein was?«, fragt Appaz irritiert und reibt sich über die Stelle an seiner Schulter, wo sich der Sicherheitsgurt bei Kerschkamps Vollbremsung gestrafft hatte.
»Ein Frog«, wiederholt Kerschkamp. »F-R-O-G, friend of Gerd, alles klar? Schröder, Mann, unser Ex-Kanzler!«
Die Ampel springt auf Grün. Aber Kerschkamp macht keine Anstalten loszufahren. Stattdessen nimmt er beide Hände zu Hilfe, um Schröders Freunde aufzuzählen.
»Erstens, ein Bauunternehmer, der mit verblüffender Regelmäßigkeit immer wieder wegen irgendwelcher Umweltskandale in der Presse auftaucht, zweitens, ein Finanzoptimierer, der mittlerweile rund eine Milliarde Euro Privatvermögen auf der hohen Kante hat, drittens, der Bumsmusik produzierende Meine, viertens, irgend so ein Havanna-Zigarren