Ein letzter Frühling am Rhein. Frank Wilmes

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Ein letzter Frühling am Rhein - Frank Wilmes

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ich dort mein Glück?«

      2.

      Die zarte Frühlingssonne lugte über die Häusergipfel, als sie vor der mit Alu verkleideten Eingangstür standen. Keine Seiten- oder Blickfenster. Keine Klinke. Keine Briefkästen. Keine Namensschilder von den Bewohnern. Nur eine Klingel, die in einen Messingrahmen neben dem Eingang eingelassen war. Eine herzliche Anmutung mit einladendem Charakter sollte dieser Eingang auf gar keinen Fall vermitteln. Könnte diese Tür sprechen, sie würde sagen: Kommt mir nicht zu nahe.

      Das Gebäude mit seinen schmalen und hohen Fenstern im massiven Mauerwerk grober, vierkantiger Steine war mindestens 200 Jahre alt. Ein paar Schritte um die Ecke verlief im Mittelalter die schützende Stadtmauer von Düsseldorf. Von außen betrachtet nur ein schlichter Bau ohne jeden kreativen Blitz. Kein Erker. Kein Türmchen. Kein Platz für das Vergeuden von Quadratmetern. Funktional ehrlich. Über dem Eingang waren mit scharfem Blick noch die verwitterten Buchstaben aus Stein in geschlungener Schrift erkennbar:

      Ich war fremd und

      ihr habt mich aufgenommen.

      Nach dem Klingeln hörten sie ein leises Summen. Die Tür öffnete sich automatisch, aber ganz langsam, sodass ein hastiges Hineingehen nicht möglich war. Das muss sich eine Yogalehrerin in Trance ausgedacht haben, dachte sich Hauptkommissar Kilian Stockberger. Tief einatmen und entspannen. Langsam, langsam …

      Ein gesichtsmäßig älterer Mann im dunkelblauen Anzug und dunkelblauer Krawatte stand hinter einem hölzernen Podest, als wollte er eine Rede halten. Er ging nur wenige Schritte auf die Besucher zu. Der Kommissar musste seinerseits mehrere Schritte auf ihn zugehen, um ein Gespräch in normaler Lautstärke führen zu können. Jetzt betrug die Distanz nur noch 1,50 Meter. Ein Begrüßungshandschlag war unter diesen Umständen nicht vorgesehen.

      Der blaue Anzugträger öffnete leicht den Mund, als würde gleich ein Vogel mit einem Würmchen heranfliegen, um ihn zu sättigen. Dabei ließ er seinen aufgestauten Atem langsam durch die behaarten Nasenlöcher fließen. Immerhin versuchte er ein Lächeln. Ein Lachdolmetscher würde seine Mimik allerdings so übersetzen: Was willst du denn hier? Staubsauger verkaufen? Spenden sammeln? Ich habe keine Lust auf dich.

      Er stellte sich als Portier vor, ohne seinen Namen zu nennen. Er sprach leise, um damit zu betonen, dass dieser Ort kein Allerlei vertrage. Wer hier lebt, hat Respekt verdient. Es fielen Worte wie Leistungsträger und Prominenz. Die brauchten Ruhe und Schutz vor falscher Aufmerksamkeit. Eine laute oder gar hektische Stimme würde seiner Aufgabe in keiner Weise gerecht. Er war sozusagen ein Aufpasser, ein Schutzbefohlener, ein Ordnungshüter für die wichtigen Menschen in diesem Haus. Ob der leise Mann auch laut fluchen konnte? Seine Stimme war wie eine Höhle, die die Welt nicht gesehen hatte. Sie verkroch sich ängstlich vor dem Leben. Er sprach im Rhythmus eines Ruhepulses mit ermüdender Geschwindigkeit.

      Der Blick führte an ihm vorbei in den Besucherraum, der früher eine kleine Kapelle mit drei Fenstern aus Spitzbögen war. Statt farbiger mosaikartiger Muster enthielten sie nur milchiges Glas. Hier beteten die Nonnen noch vor ein paar Jahren sieben Mal am Tag. Stets begann der Morgen mit den gleichen Worten:

      Herr, öffne meine Lippen.

      Damit mein Mund dein Lob verkünde.

      Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen. Halleluja.

      Die Nonnen hatten ihr Kloster verlassen, weil sie es nicht mehr finanzieren konnten. Die meisten Räume standen leer. Der Nachwuchs fehlte. Die letzte Novizin war vor zwölf Jahren ins Kloster eingetreten. Das Durchschnittsalter der Schwestern lag bei 69 Jahren. Die Nachfrage nach Rollatoren überstieg zuletzt die Anzahl an Gebetbüchern. So verabschiedete sich das Haus von den Nonnen, von ihren Gebeten und ihrer Andacht. Die klösterliche Spiritualität aber wollte selbst nach vielen Jahren nicht aus den Mauern weichen. Sie kämpfte gegen den Einfall der Architekten und Raumausstatter, die aus dem Kloster ein Luxusdomizil gemacht hatten. Edel, teuer und mit Blick auf den Rhein. Kontemplation auf das neue Sein. Wer hier lebte, hatte es geschafft. Ein scharfer Kontrast zum Armutsgelübde der Nonnen.

      Chira Walldorf, 28 Jahre alt, ein international beachtetes Model, lebte hier auf zwei Etagen, aber sie war selten zu Hause. Ihr Terminkalender las sich wie ein internationaler Flugplan. London. Rom. New York. Berlin. London. Paris. London. New York. Berlin. Mailand. Sie war das Gesicht von Haute-Couture-Modenschauen und bekannter Marken. Sie machte Werbung für eine französische Automarke und eine Hautcrème mit dem Namen »Vole«, die mit ihrer rosa geschwungenen Schrift verwöhnende Zärtlichkeit versprach – für Frauen, die sich mögen. Dazu der Slogan:

      WEIL DU ES BIST.

      Schon bald kalauerte der Spruch durch die Straßen und löste Albernheiten aus. Pubertierende Mädchen äfften ihren Lehrer nach: Du bekommst keine fünf, weil du es bist. Und man konnte kaum noch in eine Kneipe gehen, ohne den Spruch zu hören: Das Bier geht auf meinen Deckel, weil du es bist. Ein Psychologe hatte sogar ein Buch über die Alltagswirkung von Werbesprüchen geschrieben. Das Buch hieß: »Weil du etwas willst!« Erstes Kapitel: »Belohne dich!«

      Chira Walldorf genoss schicke Partys, sehen und gesehen werden: dort, wo schön und reich aufeinandertrafen. Wer in diesem Olymp der gesellschaftlichen Avantgarde aufgestiegen war, musste all die B-Promis und Sternchen auf Distanz halten, weil sie nicht gut waren für das eigene Image. Glamour ist nicht zum Discountpreis zu haben. Glamour umfasst Ausstrahlung, Stil, Begehrtheit. Das ist nur mit A-Level zu schaffen.

      Der Portier – Hausmeister sagte hier keiner – traute seinen Segelohren nicht.

      »Wir sind von der Kriminalpolizei, mein Name ist Kriminalhauptkommissar Stockberger. Und das ist Oberkommissarin Winkler und Kommissar Reichenhall.«

      Er möge bitte die Wohnungstür von Frau Walldorf öffnen. Er schaute kribbelig auf die Polizeimarke, versuchte cool zu sein und stellte eine typische Frage aus einem Fernsehkrimi.

      »Darf ich fragen, worum es geht?« Er kicherte dabei ein wenig, selbst überrascht von seiner offensiven Frage, die allerdings ohne Antwort blieb.

      »Bitte, lassen Sie mich vorangehen«, sagte er eifrig und dienerisch mit nervösem Augenzucken. Dabei grinste er. Er war jetzt der Mann, der der Polizei eine Wohnung aufschloss. Kein Träumer, ein Macher. Mit voller Entschlossenheit. »Bitte hier entlang.«

      Der Fahrstuhl hielt nicht auf dem Flur, sondern öffnete sich direkt zur Wohnung. Die ersten Blicke fielen auf vergrößerte Schwarz-Weiß-Fotos von Chira Walldorf in der französischen »Vogue« und in der deutschen »Madame«. Gegenüber der Garderobe hing ein körpergroßes Foto von ihr. Sie trug ein langes weißes Kleid ohne Schmuck. Lässig hielt sie in der rechten Hand, nach unten sinkend, ein Sektglas, offenbar ein Urlaubsfoto.

      Schauspieler stellen ihren »Bambi« für die beste Hauptrolle oder als bester Nebendarsteller in eine Vitrine. So machen das auch Sportler mit ihren Medaillen von Olympiaden, Europa- und Weltmeisterschaften. Diese Zurschaustellung adelt Leistung und Stolz und holt den gestrigen Ruhm in die Gegenwart. Models zeigen ihr Kapital: das Gesicht. Es muss wirken, und die Wirkung ist das Nonplusultra einer Branche, die den Schein des Lebens über alle Unebenheiten hinweg perfektioniert. Perfekt ist das, was du siehst. Was du nicht siehst, geht dich nichts an.

      Ihre fast dreieinhalb Meter lange Couch wirkte wie eine Bühne, die großes Theater erlebt hatte. Lust und Hingabe, Gelassenheit und Protest, Reden und Schweigen. Die Inszenierungen des Lebens brauchten diese Couch, um sich fallen zu lassen und das Leben zu spüren, allein, zu zweit, zu dritt, zu viert oder noch mehr, alles egal. Wichtig war allein: Wer hier war, musste dem Leben nicht mehr hinterherlaufen.

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