Ein letzter Frühling am Rhein. Frank Wilmes
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Er dachte darüber nach, wie schön es doch wäre, wenn Charlotte ihn nach der Arbeit mit einem Aperol Spritz begrüßen würde, um auf den Frühling anzustoßen. Das hatte sie allerdings noch nie getan.
Er müsste Charlotte schon anrufen, um das Getränk konkret anzufordern. Aber damit wäre der Reiz des Moments verflogen, nämlich den Frühling mit seinen zarten Anmutungen und Zufällen ohne Plan und Ordnung einzufangen.
Er hörte aus dem hinteren Zimmer: »Die Leiche kann in die Gerichtsmedizin.«
Die Nachricht vom Tod der Berühmtheit ließ nur ein paar Stunden auf sich warten – wenn überhaupt. Plötzlich riefen scharenweise Journalisten in der Pressestelle des Polizeipräsidiums an, um Details zu erfahren. Der Pressesprecher musste sich selbst schlaumachen, worum es ging.
Die Online-Ausgaben der großen Zeitungen reagierten auf den Tod mit reißerischen, spekulativen oder sachlichen Eilmeldungen:
»Heute tragen die Engel Chanel«
»Schneewittchen-Mord im Kloster«
»Drogentod am Altar?«
»Chira Walldorf ist tot«
»Warum musste Chira Walldorf sterben?«
Diese mediale Wucht, die wie nach einem Dammbruch schlammige Wassermassen ins Tal drückte, überwältige Kilian, der in seinem ganzen Leben vielleicht acht Sätze mit einem Journalisten gesprochen hatte. Bisher konnte er unbehelligt von der Öffentlichkeit seine Fälle bearbeiten. Aber jetzt wurde er zu einer Figur des öffentlichen Interesses.
»Wer ist der Kommissar, der den Model-Mörder jagt?«, titelte eine Nachrichtenagentur. Besorgt rief ihn Charlotte an, er solle einen Anzug mit weißem Hemd anziehen. Diese Notfallbekleidung für repräsentative Anlässe hing permanent in seinem Büroschrank. Aber bisher gab es keinen Notfall. Er konnte auch nicht erkennen, warum die aktuellen Ermittlungen einen Anzug mit weißem Hemd erforderlich machten.
Beziehungsweise: Er wollte Charlotte bewusst falsch verstehen. Trotz gehörte zu seinem Charakter, und er war mit seiner Art das, was Menschen manchmal als sonderbar oder kompliziert bezeichneten. Die Norm, wie ein Mensch geheimhin sein sollte, um den allgemeinen Erwartungen zu entsprechen, passte nicht in seine Welt. Das machte sich freilich auch an kleinen Dingen des Alltags fest. Er scheute die Petitesse durchaus nicht. So hasste er es zum Beispiel, eine Parfümerie zu betreten. Er sagte, er bekomme in der warmen Raumluft Kopfschmerzen von den unterschiedlichen Düften, die sich die Kundinnen auf die Haut sprühen ließen, um den Geruch zu testen. Außerdem mochte er es nicht, wenn die Verkäuferin ihm ein Parfüm-Pröbchen zum Mitnehmen anbot, weil er nicht als eitel gelten wollte. Männer mit Parfüm waren für ihn eitel. Aber Charlotte meinte, er sollte von der Verkäuferin alles annehmen und sich dafür bedanken. Sie liebe es, wenn Kunden übertrieben »Danke« sagten, das gebe ihr das Gefühl, eine Wohltäterin zu sein. Und die Wohltäterin würde ihr dann beim nächsten Einkauf sagen: »Ach, Sie haben aber einen netten Mann!« Gefolgt von dem Satz: »Warten Sie noch kurz, ich gebe Ihnen noch ein paar Pröbchen mit, die müssen Sie unbedingt ausprobieren.« So funktionierte also Frauen-Kommunikations-Konsum, dachte sich Kilian.
Da war er natürlich sehr viel klarer im Kopf. Er wollte sich nicht verstellen und irgendwelche Spielchen spielen, um das Verkaufspersonal für ein bestimmtes Verhalten zu gewinnen. »Ich bin authentisch«, betonte er mehrmals am Tag, besonders dann, wenn seine Frau nach seinem Empfinden mal wieder nicht authentisch war. Dabei fand er das Wort »authentisch« ziemlich bescheuert, weil es jeder »Plapperheini« benutzte und es deshalb völlig kraftlos wirkte. Den Widerspruch hielt er aber locker aus.
Er versuchte, auch »dynamisch« und »innovativ« weitgehend aus seinem Wortschatz zu verbannen, obwohl er sich selbst als dynamisch und innovativ bezeichnen würde, aber klar, wenn die größten Langweiler sich als dynamisch und die erfolglosesten Typen sich als innovativ hochjubelten, müsste er andere Worte für sich finden.
Ihn gab es nur exklusiv, und er musste ständig aufpassen, kein Opfer des Zeitgeistes zu werden. Der Zeitgeist mit seinen Moden und Stimmungen war für ihn ein gefährlicher Geselle, und seine Charlotte eine gefährliche Kumpanin des Zeitgeistes.
Angriff: »Zieh doch mal etwas Anderes an«, forderte sie ihn auf.
Die Verteidigungslinie stand sofort: »Ich bin nicht ein Clown, der sich verkleidet.«
Gegenangriff: »Ein Clown fällt wenigstens auf.«
Kilian war Dauer-Jeans-Träger. Manchmal kombinierte er seine Jeans mit einer blauen Jacke, wenn er das Gefühl hatte, dadurch nicht seine Authentizität zu beschädigen. »Bullen-Outfit« nannte das Charlotte, weil alle zivilen Polizisten so oder ähnlich herumliefen. Sie sagte, sie müsse übertreiben, weil ihr Mann auf sprachliche Feinheiten hinsichtlich der Mode nicht reagiere.
4.
Vor dem Haus der Ermordeten drängelten sich Fotoreporter und Kamerateams um die besten Plätze. Sie schubsten sich beiseite und motzten wirr durcheinander. Einige hatten eine Standleiter dabei, um über die anderen Köpfe hinweg die Linse auszurichten für das bewegende, animierende, herausfordernde Motiv. Optimal wäre ein Motiv gewesen, das Trauer und Anmut, Stille und Intimität im entscheidenden Bruchteil einer Sekunde einfängt, so etwa: Als die schwarz gekleideten Männer vom Bestattungsinstitut die anthrazitfarbene Leichenbahre aus dem Haus tragen, öffnen sich die Wolken und die Sonne strahlt wie ein Abschiedsgeschenk für Chira Walldorf. Schön kitschig. Aber die Leiche war schon in der Gerichtsmedizin, und auf das Wetter hatten die Fotoreporter ohnehin keinen Einfluss.
Der Nachrichtenstrom erfasste die Republik, als sei ein Modelmord wichtiger als eine Sozialreform. Wichtiger als der Trump-Putin-Gipfel. Wichtiger als ein Machtkampf um das Kanzleramt. Was die Menschen ins schockhafte Staunen versetzte und ihnen Anlass zum Tratschen gab, musste einfach bedeutungsvoll und damit wichtig sein. Die großen Modehäuser in Paris und Mailand gaben Beileidsbekundungen heraus. Artige Worte im feinen Kostüm des Schreckens.
»Wir trauern um ein großes Leben«, schrieb die wohl renommierteste Modelagentur »Z 10«. Großes Leben, stand da tatsächlich, als ob Chira Walldorf sich viele Jahrzehnte für junge Künstler eingesetzt oder Spenden für arme Kinder in Deutschland gesammelt hätte.
Der schillernde Modemacher Massimo Dutti beließ es nicht mit einer schriftlichen Erklärung. Mit Sonnenbrille trat er aus dem Palast seiner Haute Couture, obwohl die Sonne nicht schien. Er sagte mit belegter Stimme, monoton, aber doch unruhig, als müsste er mit genau 38 Buchstaben das Unbegreifliche einer plötzlichen Endlichkeit auf den Punkt bringen: »Wir sind alle bestürzt und unendlich traurig.« Er schaute für einen Augenblick in die Kameras, ging dann zurück durch die gläserne Tür, die einen massiven Türgriff hatte, der einem Rugbyball ähnelte.
Die Branche des Zeitgeistes kannte sich mit den Worten der Schmeichelei aus, mit all den Befindlichkeiten und Sehnsüchten, begehrt zu sein. Aber nun befand sie sich in einer beklemmenden Starre zwischen Ergriffenheit und Verwirrtheit. Ihr buntes, schrilles, heiteres Spektakel offenbarte müde, ratlose Worte und ebenso müde und ratlose Gesichter. Mode ist Leben. Extravaganz. Partys. Aber doch kein Leichensack!
Die sündhafte teure Modemarke »Patricia Home«, mit der die Tote zum Star-Mannequin wurde, setzte auf eine Hoffnungsprosa, um das Nicht-Mehr-Sein zu verarbeiten und sich von den Trauerworten der anderen abzusetzen:
Der Tod ist die Fratze des Lebens
Übermütig offenbart er sich