Ein letzter Frühling am Rhein. Frank Wilmes

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Ein letzter Frühling am Rhein - Frank Wilmes

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oder …

      »Lange her«, giftete Gardner.

      »Wenn also ein berühmter Mensch plötzlich stirbt, sterben Träume, denn die Menschen projizieren ihre Träume auf den Star. Er personalisiert das Schöne, Gute, Wunderbare, das sich vom Alltag abhebt, und mit seinem Tod entlässt er die Menschen plötzlich mit Wunden in ihren Alltag.«

      Gardner, der zu seiner Anzugfarbe immer ein gleichfarbiges Einstecktuch trug, wartete auf seinen Auftritt. Auf seine große Nummer, um den schlau quasselnden Frauen endlich Paroli zu bieten.

      Er lächelte die Moderation mitleidig an und bemerkte triumphierend: »Liebe ist nicht immer lieb, Liebe muss Hass und Wehmut aushalten, und wenn das einmal nicht möglich ist, verliert die Liebe ihren Halt, und das endet wie in diesem Fall recht tragisch.«

      Die Talkmasterin fragte ihn mit wachen Augen, wie er das genau meine. Denn »Wehmut, Liebe, Tragik, das ist alles nicht neu, das hören wir fast jeden Tag von irgendjemandem von irgendwoher«.

      Er lächelte noch klarer dieses »Ach Püppchen, du hast keine Ahnung« und bemühte sich um ein bedeutungsvolles Erscheinungsbild. Sprechtempo verlangsamen, Brille in die Hand nehmen und Blickkontakt suchen. Als er sich seines bedeutungsvollen Ausdrucks ganz sicher war, konnte er endlich davon sprechen, dass ihm aus dem Umfeld der Toten Informationen zugetragen worden seien.

      »Zugetragen«, lästerte das Püppchen, »wer hat denn da was getragen? Muss ganz schön schwer gewesen sein.«

      Gardner, noch ganz angetan von seiner Andeutung, hätte sich mit seiner Antwort gerne fünf Minuten Zeit gelassen, um die Begierde des Püppchens und der Zuschauer nach einer konkreten Antwort auszukosten und die Neugierde in Ungeduld zu verwandeln. Sag’s endlich, sag’s endlich, sag’s endlich.

      Mit seiner Online-Redaktion hatte er bereits vorher ausgemacht: »Wenn ich rede, dann haut die Schlagzeile heraus.«

      Er wusste genau, wie er seine Leser packen musste, mit Themen, die zornig, wütend, neidisch oder eifersüchtig machten. Als raffinierter Schleimer der Volksmeinung beherrschte er ohnehin das hinterhältige Zusammenspiel aus Vorurteilen und Intoleranz, und das Spiel ging so: Mehrheit gegen Minderheit, und die Mehrheit gewinnt immer.

      Endlich sagte er dann: »Wir gehen davon aus, dass sich Chira Walldorf im lesbischen Umfeld bewegt hat und dass dort die Ursache für den Mord gefunden werden muss.«

      Ehe das letzte Wort gesprochen war, hatte »Glitzglotz« schon seine vorbereitete Schlagzeile scharf gestellt:

      »Mordverdacht um Lesbenaffäre.«

      Die Nachrichtenagenturen und Online-Ausgaben von weiteren Tageszeitungen nahmen die Schlagzeile sofort auf und machten daraus ihre eigene Headline.

      »Gerüchte um Chira Walldorf: Liebte sie Frauen?«

      »Musste das Model sterben, weil sie eine neue Geliebte hatte?«

      »Drama um die Liebe?«

      Kilian spürte, dass seine geduldige Gelassenheit zarte Risse zeigte, wie ein Muskel nach überhartem Training. Die Zeit saß ihm im Nacken, weil die Medien Druck machten. Sie schossen mit Schlagzeilen und Schlagworten. Immer schwang der Vorwurf mit, die Polizei tue zu wenig. Sie sei nicht wendig genug und viel zu brav. Beschützt uns endlich.

      Immerhin, Kilian verstand nun, wie sich ein Politiker unter medialem Dauerbeschuss fühlt oder ein Bundesligatrainer, dem nach jeder Niederlage sein baldiger Rausschmiss vorausgesagt wird.

      Kilian wusste selbst: Wenn ein Fall in zwei, drei Tagen nicht gelöst wird, wird es mit jedem Tag schwerer. Aber was sollte er mit dieser Erkenntnis anfangen?

      »Es kommt, wie es kommt«, sagte er so daher. Er wollte keinen tiefen Gedanken aussprechen, sondern einfach etwas sagen, das nach Gelassenheit klang.

      8.

      Eine Analyse der Verbindungen auf dem Laptop von Chira Walldorf ergab, dass ihr Nachbar Jürgen Wolters in den vergangenen acht Wochen drei E-Mails an sie geschrieben hat. Er diente sich darin als ihr Anwalt an, der sich gerne um rechtliche Alltagsfragen kümmern würde. Sie hatte keine dieser E-Mails beantwortet.

      9.

      Als Modeverkäuferin einer Kette, die sich darauf spezialisiert hatte, die Haute Couture mit billigen Stoffen nachzumachen und an junge Leute zu verkaufen, legte die junge Frau aus dem Ruhrgebiet Wert auf einen »gewissen Status«. So redete kein Mensch in ihrer Stadt, aber immerhin: Um dem Reden ein Alibi zu verleihen, fuhr sie gerne nach Düsseldorf, um mal etwas anderes zu sehen, wie sie sich ausdrückte.

      Natürlich gab es anschließend immer viel zu erzählen vom Bummel auf der sündhaft teuren Königsallee, wo all die Rang-mit-Namen-Boutiquen vertreten waren, und ihr fiel auf, wie überdreht die Verkäuferinnen dort wirkten. Vielleicht waren sie auch nur stolz darauf, für eine Luxusmarke arbeiten zu dürfen, die sie sich selbst niemals leisten konnten. Vielleicht wäre eine gewisse Heiterkeit auch unpassend. Wer für einen Pullover 1.850 Euro bezahlt, erwartet vom Personal respektvolles Verhalten. Angemessene Distanz. Ruhige Stimme. Jede Unebenheit im Aufritt würde das Kaufritual erheblich stören.

      Ihr kleines Badezimmer mit einem überdimensioniert großen Spiegel war ihr Sehnsuchtsort. Er war umrahmt mit 16 Glühbirnen, um das Gesicht fasergenau auszuleuchten. Wie eine Sonne aus der Steckdose verbreitete dieses Licht Wärme für ein Gefühl der Genugtuung. »Das bin ich. Ich bin die Schönheit. Die Engel werden es bezeugen.«

      Von oben betrachtet wirkte ihr Badezimmer wie ein Atelier. Ordnung würde nur stören. Chaos bedeutete Leben. Ein Leben ohne Anpassung. Wild. Frei. Selbstbestimmt. Lebe dein Leben und nicht die Erwartungen anderer Menschen.

      Sie lächelte in sich hinein und die Konturen ihres Gesichtes offenbarten einen Stolz, der auf den großen Applaus wartete. Was in diesem Leben wirkte, war großes Theater. Die kriechende Raupe mutierte zum begehrten Schmetterling, und seine Flügel, olivgrün mit feinem Ockergelb, ach wie schön, schlugen heiter im weichen Wind.

      »Ich bin die Schönste im ganzen Land«, sang sie heiter zu ihrem Ebenbild im Spiegel.

      In Augenhöhe des Spiegels stand ein roter Samtplüschhocker wie in einem Hollywood-Filmstudio, als würde sich gerade Cate Blanchett oder Julia Roberts für die nächste Szene die Lippen nachziehen. Aber hier saß nicht Hollywood, sondern das Ruhrgebiet. Auf der schmalen Ablage unter dem Spiegel und dem Beistelltischchen neben der Toilette befanden sich all die Instrumente für die Vollendung ihres Gesichtes. Puderdöschen, Rouge, Pinselset mit breiten und schmalen Bürsten aus Echthaar, sechs Lippenstifte in Kirschrot, Rosé, Beerentönen, Pink und Orange. Lipgloss, Lidschatten mit matten und schimmernden Nuancen, Augenbrauenzupfer, Abdeckcreme, Kajalstifte, Glätteeisen, Lockenmaschine, Wimperntusche, Abdeckfarben, Nagellack, Scheren, Haarbürsten wiederum in Echthaar, Anspitzer für die Kosmetikstifte, Schwämmchen, Seifen, Haargummis in verschiedenen Farben.

      Sie saß mit geradem Rücken auf ihrem Samtplüschhocker und betrachtete ihr Gesicht. Sie versuchte, sich an einem großen Gedanken zu orientieren, um ihren Gefühlen eine Stoßrichtung zu geben. Daraus wurde eine Kette aus Impulsen, Fiktionen und Offenbarungen: Die Menschen mussten sie einfach mögen, dachte sie.

      Sie träumte. Ein Künstler malte ihr ins Gesicht das Bild einer Versonnenen, die Liebreiz und Begierde in verlockender Ausstrahlung auslebte. Er folgte damit all den Fügungen seiner Kreativität, um seinem Schöpfungsauftrag für sie gerecht zu werden.

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