Ein letzter Frühling am Rhein. Frank Wilmes
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»Ooohhhhh, ist das eine traurige Geschichte«, alberte Cosima, »aber jetzt verstehe ich dich endlich. Ich melde dich bei den Weight Watchers sofort ab, und die bestellte Waage schicke ich auch zurück. Ehrenwort.«
Kilian zog demonstrativ seine Tür zu und sagte, so war er jedenfalls zu verstehen, »Kindergarten«.
11.
Es gab Rotwein, Weißwein, Sekt, Wasser, helle und dunkle Weintrauben, Radieschen, französisches Landbrot, Baguette, Butter, Öl, Salz, Feigensenf und acht verschiedene Käsesorten, darauf jeweils eine eingesteckte Fahne mit dem passenden Namen: Brie, Edamer, Camembert, Schaf- und Ziegenkäse, Holländer, Gorgonzola und Parmesan.
Dr. Robert Kirsch und seine Frau Tilda waren zu Besuch bei Kilian und Charlotte. Robert war ein alter Freund von Kilian. Er hatte Psychologie studiert und seine Doktorarbeit über die »Dominanz der Eitelkeit im Spiegel der Eifersucht« geschrieben. Er ging der Frage nach, wo die Grenzen verlaufen zwischen der natürlichen Freude über die eigene Attraktivität und der übertriebenen Sorge, dass mich keiner mehr mag.
Robert war erst über Umwegen zur Psychologie gekommen. Er hatte bereits ein Jahr als Studienrat für Chemie und Biologie gearbeitet, als er spürte, dass Schule ihm nicht lag, genauer gesagt, dass ihm die Eltern der Schüler nicht lagen. Die Eltern dachten immer, sie hätten die liebsten und klügsten Kinder, die ständig von anderen Kindern geärgert und vom Lehrer benachteiligt würden. Er musste sich eingestehen, dass sein pädagogischer Idealismus nicht ausreichte, um über den Unterricht hinaus Krisenmanagement gegenüber den Eltern zu leisten.
Seine ehemalige Freundin, eine Verhaltenstherapeutin, weckte sein Interesse an der Psychologie. Er konnte sich noch gut an ihre erste Patientin erinnern, eine junge Frau mit einer Spinnenphobie. Wenn sie eine Spinne sah, bekam sie rote Flecken im Gesicht, zitterte und redete wirres Zeug, um damit ihre Angst wegzureden. Der Therapieplan sah vor, dass die Patientin nach vier Wochen in der Lage sein sollte, eine Gummispinne zu berühren, nach acht Wochen einer Biospinne beim Krabbeln angstfrei zuzusehen und nach zwölf Wochen sie in die Hand zu nehmen. Es hatte nicht funktioniert. Sie blieb spinnefeind, aber immerhin bekam sie ihre Hysterie in den Griff.
Robert entschied sich für die Psychologie, weil er den Menschen in seiner charakterlichen und seelischen Substanz verstehen wollte: Wie er denkt. Warum er es denkt. Wie er Dinge wahrnimmt und verarbeitet. Wie sich Ticks und Macken entwickeln. Woher sie kommen. Wie genau das Scheitern eines Menschen in allen Details funktioniert und warum Menschen aus dem Leben gehen, die anscheinend – augenscheinlich – alles haben.
»Jeder Mensch«, formulierte er in einem klug klingenden Tonfall, »ist ein Mysterium, dessen Beurteilung uns immer wieder zu Anfängern macht.« Er genoss solche Sätze, weil sie spontan Eindruck hinterließen, obwohl er damit wahrhaftig nichts Neues aufgedeckt hatte. Er hätte auch sagen können, dass die Psychologie wissenschaftlich nicht schnell genug vorankomme, um die Menschen genauer zu verstehen. Aber das wollte er so natürlich nicht sagen. Er wusste, dass die Psychologie immer nur Annäherungen bot, aber keine logische Lösung.
Später machte er sich einen Namen als Buchautor und Gastredner über die menschlichen Abgründe des Tötens. Per Zufall kam er dazu. Er lernte auf der »Forensischen Nacht«, einer Veranstaltung des Gerichtsmedizinischen Instituts, die Leiterin der Gerichtsmedizin kennen. Sie hielt einen Vortrag über »TV-Mord und Wirklichkeit«. Das Mordthema ließ ihn seitdem nicht mehr los. Er forschte nach »Charakterlichen Indizien für spezifische Mordmerkmale«. Er bemerkte im besten Schlagzeilen-Deutsch: »Jeder kann zum Mörder werden.«
Meistens trafen sich Kilian und Robert ohne ihre Ehefrauen. Dann redeten sie über Politik und Fußball, über den Job und komische Mitarbeiter. Sie erzählten sich Anekdoten von früher, meistens Frauengeschichten, in denen Kilian und Robert die begehrtesten Männer waren, die die schönsten und klügsten Frauen um den Finger wickeln konnten. Solche Erinnerungen, wie wahr sie auch sein mochten, lösten tiefe Zufriedenheit aus. Heute fiel dieser Erzählstrang aus. Kilian und Robert saßen sich gegenüber, Charlotte und Tilda auch. Charlotte besaß eine Boutique in der Vorstadt. Sie hatte sich auf spanische Designer spezialisiert. Salida, Soltomar oder Suerta. Dass sie alle mit »S« begannen, war reiner Zufall, beteuerte sie, und dass kaum eine Kundin diese Namen im Kopf hatte, spielte auch keine große Rolle, Hauptsache, sie klangen nach Lebensgefühl und Begehrtsein.
Sie konnte sich noch haargenau an die ersten Kollektionen erinnern. Die Blazer sahen aus wie Armee-Jacken, schwer und schwarz. »Heute sehen die Jäckchen ja wie seidige Papiertüten aus, leicht, leicht, leicht und in allen Farben«, meinte sie. Wer ihre Boutique betrat, musste die Piratin in sich entdecken. Raus aus der artigen Damen-Bürger-Rolle, rein in das Rebellen-Anderssein. Sonst wirkte ihre Mode wie ein karnevalistisches Kostüm. So schräg, als würde ein Biedermann eine rote Brille tragen. Sie selbst war kein farbenfroher Modemensch. Sie kombinierte Schnitte und Stoffe – alles in Schwarz, manchmal aber wechselte sie auch ins andere Extrem: alles in Weiß.
Den Riesenumsatz machte sie nicht, sagte sie ungefragt, aber die Boutique war ihr Ding und dieses Ding war mehr als ein Job. Es war eine Aufgabe von unschätzbarem Wert. Denn genau genommen verkaufte sie keine Mode, sondern Ausstrahlung, Selbstbewusstsein, Glück. Das sei wie mit einer Kneipe. Die Menschen gingen nicht in die Kneipe, um ein Bier zu trinken, sondern um andere Menschen zu treffen. Auf die Kommunikation komme es an, das Bier sei da nur ein Zusatznutzen.
Trocken bemerkte Kilian dazu, dass er ein »sinnlicher Beamter« sei und stolz darauf sei, ein Glücks-Beamter zu sein. Er liebte es, mit seinem Staatsdiener-Image zu spielen, weil sich Beamter nach Besoldungsgruppe, Beförderung, Pensionen, Ärmelschoner und stressfreier Arbeit anhörte. Vielleicht würde er seinen Beamtenstatus am liebsten verstecken, wenn er im Gewerbesteuerarchiv der Stadtverwaltung oder als Sportlehrer in der Grundschule arbeiten würde. Aber als Leiter der Mordkommission sendete er beamtenuntypische Assoziationen: Sie vermitteln den tiefen Morast von Dramen und Tragödien, von Leid und Kummer, und alles endet mit der Strafjustiz, mit Urteil und Gefängnis.
Tilda war Modejournalistin. Sie schrieb für Tages- und Wochenzeitungen, manchmal auch für die teuren Modemagazine, auf Hochglanz gedruckt, damit die Mode-Anzeigen der renommierten Luxusmarken so klar hervorstachen wie ein Karpfen in der Badewanne. Das Papier der Seiten enthielt leichte Duftnoten, als würde man in eine gedruckte Parfümerie gehen. Genau genommen schrieb sie nicht über Mode, sondern über das gesellschaftliche Drumherum der Haute Couture. Über Launen und Stimmungen der Branche, über die Stars der Branche, die sich nicht Modedesigner nennen ließen, sondern Modeschöpfer. Vielleicht hätte sich Picasso Bildschöpfer nennen sollen statt Maler. Sie schrieb auch über Magermodels, drogenabhängige Models, über todessüchtige Models. Sie schrieb über die Schatten, die die Modewelt im Sonnenschein nicht bemerkte.
Models kannte Robert nur aus den Frauenzeitschriften, die Tilda mitbrachte. Als er noch jünger war, hießen sie Cindy Crawford, Linda Evangelista, Naomi Campbell oder Claudia Schiffer. Wer danach kam, keine Ahnung, ihm fiel nur noch Agyness Deyn wegen ihres platinblonden Pixie-Schnittes ein.
Regelmäßig reiste Tilda zu den Pariser Modenschauen, zur Mailänder Modewoche, zur London Fashion Week und zur