Zorn der Lämmer. Daniel Wehnhardt
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Trotzdem durfte sich die Mutter Oberin ihre Aufregung nicht anmerken lassen. Ihr Auftreten musste natürlich und selbstverständlich wirken. So, als wäre sie wirklich nur eine bettelarme, schüchterne Jüdin, die von der Plackerei in einer der Fabriken der Stadt nach Hause kam.
Jetzt, als es nur noch wenige Meter bis zu der Menschenschlange vor ihr waren, vernahm Anna die herrischen Stimmen der jüdischen Polizisten. So unauffällig wie möglich beobachtete sie die Männer bei ihrer Arbeit. Sah zu, wie sie mit finsteren Mienen einen nach dem anderen zu sich riefen und abtasteten. Mit dem, was Anna in ihrer Hose versteckte, würden sie sie direkt aussortieren. Würden sie an die Gestapo weiterleiten, was ihren sofortigen Tod bedeutete.
Doch sie hatte eine Eintrittskarte, und diese Eintrittskarte hieß Chajm. Chajm Goldmann – ein Junge an der Schwelle zur Volljährigkeit, den die FPO bestochen hatte. Ob es Gottes Wille war, dass sein Name auf Hebräisch »Leben« bedeutete? Denn er, der sich wegen der Privilegien freiwillig für die jüdische Polizei gemeldet hatte, würde darüber entscheiden, ob die Mutter Oberin weiterleben durfte – oder sterben musste.
Hoffentlich hatten sie sie ihm ausreichend beschrieben, dachte Anna. Spätestens wenn Chajm bei der Kontrolle erfühlte, was sie ins Getto zu schmuggeln versuchte, würde die Stunde der Wahrheit schlagen.
»Der Nächste!«, rief der schmächtige junge Mann.
Anna stellte sich vor ihn und verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf. An einer Hauswand auf der anderen Straßenseite glaubte sie ihre Kontaktfrau zu erkennen. Wenn alles nach Plan verlief, würde Anna von ihr, die mit bangen Blicken zu ihr herübersah, zum Hauptquartier des Widerstands geführt werden. Dorthin, wo die Kämpfer bereits sehnsüchtig auf ihre Lieferung warteten.
Die Betonung lag auf »wenn«.
»Führst du etwas bei dir, Jude?« Chajms kräftige Stimme schoss durch Annas Körper. Es fühlte sich an, als würde er sie mit seinem Blick durchbohren. »Sag’s besser gleich. Wir finden es sowieso.«
Anna schüttelte den Kopf. Wieder rann Schweiß an ihren Schläfen herunter. Sie konnte einfach nicht aufhören zu schwitzen.
»Gut«, sagte Chajm und startete sein Kontrollprogramm. Tastete zunächst ihre angewinkelten Arme ab, dann Kopf, Nacken, Hals und Schultern. Wanderte an ihrem Oberkörper herunter, bis er zu ihrer Hüfte und zu ihren Oberschenkeln kam. Und schließlich zu der Stelle, an der Schwester Dalia die Handgranaten mit Tüchern festgebunden hatte.
Chajm stoppte. Sein Blick schoss nach oben.
Anna schloss ihre Augen und betete. Noch nie hatte sie Gottes Barmherzigkeit so sehr gebraucht wie jetzt.
*
Leider hatte Abba mit seiner Vermutung recht behalten: Sie hätten Jakob Gens nicht über den Weg trauen dürfen. Wie ihr Anführer vorhergesagt hatte, waren sie von diesem elendigen Verräter in eine hinterlistige Falle gelockt worden.
Leipke stand nur wenige Meter vom Hauptgebäude der jüdischen Polizei in der Szpitalna-Straße entfernt und beobachtete den Ausgang. Ähnlich wie Vitka war auch er die Idealbesetzung für Aufträge wie diese, denn dank seiner kräftigen Statur, seiner blonden Haare und seiner blauen Augen sah er exakt so aus, wie die Deutschen sich einen Arier vorstellten.
Aus diesem Grund fiel er auch den beiden SS-Männern, die zusammen mit Wittenberg aus dem Gebäude kamen, nicht auf. Indem er vortäuschte, in eine andere Richtung zu sehen, observierte Leipke aus dem Augenwinkel jede ihrer Handlungen. Sah zu, wie sie dem Löwen, wie Wittenberg bei den Rebellen hieß, schwere Ketten anlegten, die auf dem Boden schleiften. Er beobachtete, wie sie im Gänsemarsch auf das Gettotor zustrebten, vor dem ein dunkelgrauer Mercedes mit laufendem Motor auf sie wartete.
Dann war der Moment gekommen. Leipke holte tief Luft und blies kurz und kräftig in seine Trillerpfeife. Erschrocken schossen die SS-Männer zu ihm herum.
Shmuel, der auf dieses Zeichen gewartet hatte, nutzte den Moment ihrer Unaufmerksamkeit, sprang aus einer dunklen Seitenstraße, stürzte sich auf sie und versetzte ihnen mit einem Brecheisen blitzschnell zwei Schläge auf den Hinterkopf. Während die SS-Männer daraufhin benommen zu Boden sanken, winkte er hektisch Leipke herbei.
»Los, wir müssen von hier verschwinden«, befahl er und warf Wittenberg zur Tarnung einen Mantel über. »Wir haben nicht viel Zeit. Hier wird’s gleich vor Gestapo nur so wimmeln.«
Mit vereinten Kräften packten sie den Löwen unter den Armen und schleppten ihn in die Straschun-Straße. In den Keller des Hauses, in dem sich neben dem Hauptquartier des Widerstands sowie dem Waffenlager auch eine Werkstatt befand. Dort angekommen, schnappte Shmuel sich eine Metallsäge und befreite Wittenberg von den Ketten. Gemeinsam warteten sie darauf, dass die anderen wie verabredet eintreffen würden. Eine Viertelstunde später kamen sie an.
Leipke errötete, als Ruzka ihn erneut mit diesem für sie so typischen, warmen Blick begrüßte. Seitdem er sie bei Abbas Ansprache an Silvester im Keller des Ratsgebäudes zum ersten Mal so leidenschaftlich und wortgewandt erlebt hatte, ging ihm das krausköpfige Mädchen mit dem wippenden Gang einfach nicht mehr aus dem Kopf. Wie er inzwischen herausgefunden hatte, waren sie sogar gleich alt. Was ihm jedoch zu schaffen machte, waren die Gerüchte. Wie viel wohl an ihnen dran war? Ob es tatsächlich stimmte, dass Abba, Vitka und Ruzka eine Dreierbeziehung führten?
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Shmuel schließlich. Wittenberg, der von der Befreiungsaktion immer noch mitgenommen war, sah ihm reglos in die Augen. »Am besten ziehen Sie das hier an.«
Der Löwe kauerte sich auf einen Hocker, streifte sich das Kleid über, das sie ihm organisiert hatten, und band sich ein Tuch um den Kopf. Um seine Verwandlung perfekt zu machen, schminkten Vitka und Ruzka ihm die Lider und die Lippen. Als sie fertig waren, nickte Shmuel anerkennend.
»Wir müssen den Widerstand in Alarmbereitschaft versetzen«, sagte er. »Falls die Deutschen jetzt das Getto stürmen, werden wir kämpfen!«
*
Keuchend rannte Ruzka dem wütenden Mob hinterher. Durch ihre kurzen Beine war sie jedoch eindeutig im Nachteil, und schon bald drohte sie deshalb den Kontakt zu der aufgebrachten Menschenmenge zu verlieren. Abba, den sie vor sich herjagten, konnte sie kaum noch sehen. In ihrem Rücken lauerten weitere hysterische Bewohner, die ihr dicht auf den Fersen waren.
»Gebt uns Wittenberg!«, skandierten die Leute und bewarfen sie mit Abfall.
Nach der gelungenen Befreiung des Löwen war Murer unverhofft in Gens’ Büro aufgetaucht. Natürlich hatte der Oberst gewusst, dass der Chef der jüdischen Polizei auch Kontakte zum Untergrund pflegte.
»Richte diesen Schädlingen Folgendes aus«, hatte er Gens unmissverständlich befohlen, »entweder sie liefern mir Wittenberg oder ich lasse das Getto liquidieren.« In Windeseile hatte sich seine Drohung wie ein Lauffeuer unter den Bewohnern verbreitet.
Im Morgengrauen entbrannte sich der Zorn schließlich. Die Rebellen waren gerade dabei, sich in ihrem Hauptquartier in der Straschun-Straße zu beraten, als plötzlich eine Scheibe klirrte. Zunächst war nur ein einzelner Stein durchs Fenster geflogen. Kurz darauf ein zweiter, dann ein dritter. Alle warfen sich auf den Boden und schützten mit den Händen ihren Kopf.
Als der Boden großflächig mit Steinen und Scherben bedeckt war, kehrte eine kurze Feuerpause ein. Mutig krabbelte Ruzka auf den Knien zum Fenster und lugte durch den gesplitterten