Zorn der Lämmer. Daniel Wehnhardt

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Zorn der Lämmer - Daniel Wehnhardt

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die nun auf seinen Schultern lag, verlor sich sein kalter Blick in der Unendlichkeit.

      »Wir müssen begreifen«, setzte er wieder an, »dass uns niemand retten wird. Wir sind auf uns allein gestellt.«

      »Dann verschwinden wir«, brüllte jemand in den Raum hinein. »Wir hauen ab, bevor es noch schlimmer kommt.«

      Abba schüttelte den Kopf. »Flucht ist eine Illusion, das werden die Deutschen nicht zulassen.« Nachdenklich kratzte er sich an seinem Kinn. »Deshalb stehe ich heute Abend vor euch: Lasst uns nicht wie Lämmer zur Schlachtbank gehen! Ich sage: Lieber sterben wir als freie Menschen im Kampf, als dass wir durch die Gnade unserer Mörder weiterleben.«

      Jetzt klinkte sich Samuel Posner in die Diskussion ein. Per Handzeichen bat er ums Wort und wartete, bis sich die Unruhe gelegt hatte. »Bei allem, was uns manchmal trennt«, sagte er, »gibt es doch etwas, das uns vereint.« Er klang besonnen, als wollte er gerade einen lebensmüden Mann daran hindern, Selbstmord zu begehen. »Es ist der Glaube. Nicht nur der Glaube an Gott oder der Glaube an das Himmelreich. Nein: Es ist die Überzeugung, dass unser aller Platz in Eretz Israel ist.« Samuel stemmte eine Hand in die Hüfte und zeigte mit der anderen in südöstliche Himmelsrichtung. »Somit ist jeder Kampf, den wir hier austragen, umsonst. Ich plädiere dafür, dass wir unsere Kräfte nicht für eine sinnlose, zum Scheitern verurteilte Sache verschenken.« Jetzt legte auch er eine Kunstpause ein, um dem Schluss seiner Wortmeldung einen besonderen Ausdruck zu verleihen. »Was wir stattdessen tun sollten? In meinen Augen haben wir nur eine Pflicht: so viele Menschen wie möglich zu retten.«

      Auch Ruzka ergriff nun das Wort. Sie war die Erste, die es nicht mehr auf ihrem Platz hielt.

      Leipke überraschte ihre emotionale Reaktion, denn bisher hatte er die junge, auffallend kleine Frau als still und in sich gekehrt erlebt. Doch ihre neue, lebhafte Art gefiel ihm. Schmunzelnd beobachtete er, wie Ruzka schnaufte und mit einer Hand durch ihr braunes Kraushaar fuhr. Vor lauter Wut bekam ihr ohnehin kupferfarbenes Gesicht einen noch rötlicheren Ton, und ihre mandelbraunen Augen, die ansonsten Wärme und Jugend ausstrahlten, sprühten vor Erregung.

      »Weißt du eigentlich, was du da sagst?«, fauchte sie in Samuels Richtung. »Dass wir tatenlos zusehen sollen, wie das jüdische Volk vernichtet wird? Dass wir uns verkriechen sollen wie feige Ratten? Warten, bis alles vorüber ist?« Mit dem Ausdruck größtmöglicher Verachtung schüttelte sie den Kopf. »Wie könntest du jemals wieder jemandem in Eretz Israel in die Augen sehen? Wirst du erzählen, dass du dich versteckt hast, als es darum ging, dein Volk zu verteidigen?«

      Dieser Einwand brachte Samuel zur Weißglut. Nun sprang auch er, der soeben noch sachlich argumentiert hatte, von seinem Stuhl auf und stieg in das erregte Gestenspiel ein. Lautstark brüllten er, Ruzka, Abba und die anderen gegeneinander an. In dem Ratskeller standen sich nun zwei Lager feindlich gegenüber, die die Argumente der Gegenseite in Bausch und Bogen niederschrien.

      Leipke brachte dafür kein Verständnis auf. Eines hatte die Versammlung ihm somit deutlich gezeigt: In der Frage des Widerstands würde in der Jungen Garde so schnell keine Einigkeit herrschen.

      *

      Erst zwei Wochen waren vergangen, seitdem ein Bote ihm den geheimnisvollen Umschlag ausgehändigt hatte. »Wir müssen uns treffen«, hatte in sauberer Handschrift in Großbuchstaben auf einem einzelnen Blatt gestanden. Jetzt saß der Verfasser dieser Botschaft vor ihm.

      Am liebsten hätte Abba sich deshalb ungläubig die Augen gerieben, denn auch für ihn war Isaak Wittenberg bis zu diesem Augenblick nur eine mystische Gestalt gewesen. Eine okkulte Person, die niemand je gesehen hatte und über die nur sehr wenige Informationen im Getto kursierten. Niemand konnte Abba sagen, wie alt Wittenberg war, wie er aussah und wo er herkam. Das Einzige, das man über ihn wusste, war, dass er enge Kontakte nach Moskau pflegte.

      Nun saßen sich die beiden glühenden Kommunisten gegenüber. Abba studierte Wittenbergs Gesichtszüge genau. So wie er es immer tat, ließ er seinen spontanen Eindrücken freien Lauf und speicherte sie in seiner Erinnerung ab. Immer wieder behauptete Vitka, dass das die typische Angewohnheit eines Künstlers sei. Eine eigentümliche Art, mit der diese die Menschen und ihre Umgebung betrachteten.

      Von Wittenbergs Erscheinung war Abba überrascht. Wie ein intellektueller Revolutionär, für den er ihn gehalten hatte, sah dieser Mann beileibe nicht aus. Vielmehr hatte er ein breites Gesicht und einen immensen Stiernacken, wodurch er eher den Charme eines handfesten Bauern versprühte. Ständig zupfte er an seinem Anzug, der ihm nicht recht zu passen schien und in den er sich offensichtlich nur gegen heftige innere Widerstände der Tarnung wegen hineingezwängt hatte.

      Von dem Moment an, in dem Wittenberg die Wohnung in der Straschun-Straße betreten hatte, war sein Blick ausgesprochen kühl gewesen. Ebenso wie seine Worte zur Begrüßung: »Normalerweise habe ich nicht viel übrig für Zionisten.« Er sprach mit einer Stimme, die nicht minder kräftig war als seine Schultern. Mit dem Kinn deutete er in die Richtung des einzigen Fensters. »Schon gar nicht für den da.«

      Josef Glassmann, der Angesprochene, verzog keine Miene. Stattdessen lehnte er weiter lässig an der Wand, sodass sein römisches Profil deutlich zu sehen war. Ohne auf Wittenbergs Provokation einzugehen, schaute er aus seinen geheimnisvollen, dunklen Augen nach draußen auf die verschneite Winterlandschaft. Der Anführer der Betar, der im Gegensatz zur Jungen Garde rechtsgerichteten zionistischen Jugendorganisation, war Abbas Einladung gefolgt und ebenfalls zu diesem Treffen erschienen. Von ihm, der der jüdischen Polizei beigetreten war, um Jakob Gens im Auge zu behalten, erhoffte Abba sich wichtige Informationen.

      Nach einer Weile ergriff schließlich auch Glassmann das Wort. »Es gibt vieles, das uns trennt«, sagte er besonnen, »und anscheinend sind wir einzig in unserer gegenseitigen Abneigung vereint. Trotzdem hoffe ich, dass diese Zusammenkunft noch eine andere Absicht verfolgt als die, uns unserer Differenzen zu versichern.«

      Auf Wittenbergs Lippen bildete sich ein Schmunzeln. Anerkennend nickte er Glassmann zu, als habe dieser soeben eine Art Charaktertest bestanden. Mithilfe seiner bulligen Arme drückte er sich von der Matratze hoch, faltete seine Hände hinter dem Rücken und ging an der fensterlosen Wand hin und her. »Einmal mehr irren Sie sich«, setzte er zu einer kurzen, aber offensichtlich vorbereiteten Rede an. »In der Tat gibt es noch mehr, das uns vereint.« Immer wieder verlieh er seinen Sätzen durch wohl platzierte Kunstpausen Wirkung. Eine rhetorische Technik, derer sich auch Abba häufig bei seinen Reden bediente. Im Unterschied zu Wittenberg, der sich diese bewusst angeeignet zu haben schien, war sie ihm jedoch bereits in die Wiege gelegt worden. »Was uns verbindet, ist nicht der Glaube an Gott. Den haben wir längst eingetauscht. Nein, wir alle drei klammern uns an etwas anderes.«

      »Die Hoffnung«, vervollständigte Glassmann. »Die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Der ewige Traum von einem Land der Verheißung.«

      Wittenberg nickte. »Ja, wir mögen unterschiedliche Vorstellungen besitzen, wer der Urheber dieser Verheißung ist und wie das Gelobte Land aussehen soll«, sagte er und schüttelte daraufhin den Kopf, »aber kämpfen wir allein, wird keine davon wahr werden.« Er drehte sich um, zog eine Hand hinter seinem Rücken hervor und streckte sie den Männern entgegen.

      Abba sah ihn fragend an. »Ein Pakt?«

      »Nennen wir es Waffenstillstand«, korrigierte Wittenberg. »Für die Dauer des Krieges. Hier im Getto kämpfen wir nicht mehr als Kommunisten oder Zionisten. Wir kämpfen zusammen. Als Juden.« Mit seiner ausgestreckten Hand ging er weiter auf die anderen zu. »FPO – Fareinikte Partisaner Organisatzije.«

      Glassmanns Lippen formten sich zu einem zaghaften Lächeln. Mit der Schulter stieß er sich von der Wand ab.

      »FPO«, wiederholte

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