Zorn der Lämmer. Daniel Wehnhardt
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Jedes Mal, wenn er diese Geschichten las, riefen sie ihm etwas in Erinnerung: sein Schicksal. Denn Abba war davon überzeugt, zu Höherem bestimmt zu sein. Nicht etwa durch Gott, wie viele ihm unterstellten. An dessen Existenz hegte Abba berechtigte Zweifel. Genauso wenig wusste er, was genau sein Schicksal für ihn bereithielt. Doch was auch immer es sein würde, er fühlte sich bereit dazu.
Dann hörte er plötzlich ein zaghaftes Klopfen. Abba hob den Kopf und erkannte das Gesicht der Mutter Oberin. Anna Borkowska, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, hatte seine Tür einen Spaltbreit geöffnet und lugte in seine Kammer hinein.
»Entschuldige die späte Störung«, flüsterte sie, »hier ist ein Mädchen, das dich unbedingt sprechen möchte.«
Abba schenkte der Frau ein Lächeln und schob die Bibel unter seine Matratze. »Lass sie ruhig herein«, sagte er und richtete sich auf.
Ihr, die von allen im Kloster nur »Mutter« genannt wurde, hatte Abba nichts Geringeres als sein Leben zu verdanken. Nachdem die lebhafte, heute fünfunddreißig Jahre junge Frau ihr Studium in Warschau beendet hatte, war sie in den Konvent in der Nähe von Kolonia Wilenska gegangen. Später, als die Deutschen in Litauen einmarschiert waren, hatte sie für Abba und sechzehn weitere Mitglieder der Jungen Garde die Tore ihres Stifts geöffnet. Hatte sie dort vor den Nazis versteckt, sie zur Tarnung in Trachten gehüllt und allesamt zum Arbeiten auf die Felder geschickt. Es hatte nicht lange gedauert, bis sich trotz der immensen Unterschiede zwischen den christlichen Schwestern und den säkularen Juden eine enge Beziehung entwickelte.
Als nun das Mädchen, das so dringend zu ihm wollte, seine Kammer betrat, hätte Abba sich am liebsten die Augen gerieben. Sie sah aus wie eine junge Bäuerin, etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Unter ihrem Kopftuch lugten hellblonde Strähnen hervor, während ihre müden Augen die leidvolle Geschichte einer Vertriebenen erzählten, einer jungen Frau, der man alles genommen hatte.
Sie, die um ein Treffen gebeten hatte, stand nun sprachlos da und zitterte am ganzen Körper. Auf dem Weg zum Kloster musste sie halb erfroren sein. Abba bückte sich, griff nach der Wolldecke auf seiner Matratze, schüttelte sie aus und legte sie dem Mädchen um die Schultern.
»Wie heißt du?«, fragte er.
Langsam, wie in Zeitlupe, formten sich ihre Lippen nun zu einem Lächeln. Als hätte dies ihr trauriges Gesicht neu erschaffen, wirkte sie plötzlich heiter und ausgelassen. Augenblicklich fühlte Abba sich von ihrer kindlichen Art eingenommen.
»Ich heiße Vitka«, sagte sie. »Ich soll dich zurückholen.«
Abba verzog das Gesicht. »Zurück?« Er kratzte sich am Kinn. »Wohin zurück?«
»Zurück ins Getto«, antwortete Vitka. »Es gibt dort jemanden, den du kennenlernen musst.«
*
Je näher sie dem Tor kam, desto schneller schlug ihr Herz. Bis zur Kontrollstelle waren es keine hundert Meter mehr. Vor ihr standen nur noch wenige Menschen in der Schlange. Wie eine ständige Bedrohung baumelte über ihrem Kopf das Schild mit der Aufschrift »Das Mitführen von Lebensmitteln ist untersagt! Zuwiderhandelnde werden erschossen!« im Wind hin und her.
Hannahs zittrige Finger glitten in ihre Tasche. Fest und voller Hoffnung umklammerte sie die Konserve. Eine alte Frau mit mitleidigen Augen hatte sie ihr im Vorbeigehen zugesteckt, gerade als Hannah nach der Arbeit in der Fabrik zurück ins Getto geführt worden war. Wenn es ihr doch nur irgendwie gelingen würde, sie an den Wächtern der jüdischen Polizei vorbeizuschleusen! Dann würde sie die Erbsen ihrer Mutter schenken, die von allen in ihrer Familie am meisten unter dem Hunger litt. Er hatte aus der Frau, die früher nur so vor Kraft und Lebensfreude gestrotzt hatte, ein klappriges, dem Leben überdrüssiges Skelett gemacht.
Dann, während Hannah wartete und im Stillen betete, entdeckte sie plötzlich ein bekanntes Gesicht. War das etwa … Levi? Vor einem Jahr hatte der schlaksige Junge in der Schule noch neben ihr gesessen. Eine Zeit lang war Hannah sogar überzeugt gewesen, dass er für sie geschwärmt hatte.
Jetzt stand er hier und bewachte das Tor an der Ecke zur Niemiecka-Straße. Trug einen feinen sauberen Anzug, mit der blau-weißen Binde der jüdischen Polizei um den linken Oberarm, dazu eine Trillerpfeife um seinen Hals und einen hölzernen Schlagstock an seinem Handgelenk. Mit eisigem Blick untersuchte er die Menschen auf verbotene Gegenstände.
»Arme hoch!«, befahl er auch ihr, als Hannah an der Reihe war.
Erst jetzt erkannte er sie. Mit einem Mal funkelten seine Augen und einen flüchtigen Moment lang formten sich seine Lippen zu einem zaghaften Lächeln. Levi wartete, bis Hannah ihre Arme in die Luft streckte, tastete sie anschließend nur mit spürbar sanftem Druck ab, aber als er die Dose in ihrer Tasche erfühlte, hielt er kurz inne. Mitleidig sah er sie an, während eine Träne an Hannahs Wange herunterkullerte. Sie zuckte mit den Schultern.
»Los! Weitergehen!«, befahl Levi zu ihrer Überraschung. Beherzt schob er sie an sich vorbei.
Hannah konnte ihr Glück kaum fassen! Sie nahm ihre Arme herunter, verschränkte sie vor ihrer Brust und flüsterte ein schüchternes »Danke«. Levi zwinkerte ihr zu und winkte schließlich den Nächsten aus der Schlange zu sich.
Mit gesenktem Kopf verließ Hannah die Kontrollstelle und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte es tatsächlich geschafft. Sie freute sich bereits auf das Gesicht, das ihre Mutter machen würde, wenn sie –
»Halt!«, schallte es auf einmal zwischen den Häuserwänden. »Du da, sofort stehen bleiben!«
Wie ein Blitz schoss der Klang der sonoren Stimme durch Hannahs Körper. Obwohl sie den Mann nicht sehen konnte, spürte sie augenblicklich seine unmittelbare Anwesenheit. Widerwillig drehte sie sich herum und erkannte ihn sofort: Diese stahlblauen Augen, diese dunklen, zu einem strengen Seitenscheitel gekämmten Haare und diese akkurat sitzende Uniform würde sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen.
Franz Murer.
»Der Herr der Juden«, wie sie ihn nannten. Der Mann, der als Stellvertreter des Gebietskommissars für jüdische Angelegenheiten zuständig war und dessen Namen man im Getto nur hinter vorgehaltener Hand aussprach. Ihm gegenüberzustehen bedeutete meistens nur eines: den sicheren Tod.
»Komm her!«, schrie Murer. Mit seinem Schlagstock zeigte er auf Hannahs Hose. »Was hast du in der Tasche? Na los, hol’s raus!«
Hannah zögerte. Wie versteinert stand sie da, nur noch wenige Meter vom Haus ihrer Eltern entfernt. Sie konnte von hier aus sogar das ausgemergelte Gesicht ihrer Mutter ausmachen. Sie stand hinter einem der verdreckten Fenster und hielt sich die Hand vor den Mund.
Hannahs Knie schlotterten. Um sie herum herrschte Stille. Sogar die Kontrolleure am Tor hatten ihre Arbeit unterbrochen. Dutzende Augenpaare blickten sie an, während sie sich Murer mit wackeligen Schritten näherte.
Dann plötzlich der erste Hieb. Mit voller Wucht traf der Schlag des SS-Obersts sie im Gesicht. Hannah stürzte zu Boden, doch Murer trat und schlug sie weiter. Sie spürte jeden Tritt, krümmte sich vor Schmerzen. Blut lief ihr ins Gesicht. Um sie herum wurde es dunkel. Murers berauschtes Stöhnen entschwand langsam ihrem Bewusstsein.
Bis sie schließlich nichts mehr fühlte außer Wärme. Die Welt, die sie umgab, verschwamm zu einem verwaschenen Gemälde. Allumfassender