Zorn der Lämmer. Daniel Wehnhardt

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Zorn der Lämmer - Daniel Wehnhardt

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trotteten Vitka und Abba zusammen durch die Nacht. Vom Mondschein geleitet durchquerten sie Felder, umliefen Ortschaften, in denen in manchen Häusern noch Licht brannte, und sprangen über Bäche, die sich als Ausläufer der Wilija wie Wurzeln eines Baumes durch die Landschaft zogen.

      Seitdem sie das Kloster hinter sich gelassen hatten, hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Und das, obwohl Vitka davon ausgegangen war, dass Abba sie pausenlos über Sarah ausfragen würde. Dass er wissen wollen würde, was das Mädchen den Mitgliedern der Jungen Garde denn erzählt hatte und warum dies für ihren Kampf von solcher Bedeutung war. Doch zu ihrer Überraschung schien ihr Anführer, den sie sich aufgrund der Beschreibungen viel redseliger vorgestellt hatte, einfach nur die Stille zwischen ihnen zu genießen.

      Trotzdem fühlte Vitka sich wohl bei ihm, so viel konnte sie bereits sagen. Abbas Gegenwart beruhigte sie, weckte in ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Etwas, das sie bisher nur im Kreis ihrer Familie empfunden hatte. Bis zu diesem Moment hatte sie geglaubt, dass sie es nie wieder empfinden würde.

      Während die beiden sich den Toren der litauischen Hauptstadt näherten, blickte Vitka verstohlen zu Abba hinüber. Er sah genau so aus, wie die Mitglieder der Jungen Garde ihn beschrieben hatten: ein schlanker, drahtiger Mann mit langen Armen und Beinen. Dazu hochgezogene Schultern, dunkle, traurige Augen, die einen geheimnisvollen Glanz versprühten, und weiche, fast weibliche Gesichtszüge. Trotzdem, fand Vitka, strahlte er auf sie zugleich eine rohe, männliche Kraft aus.

      Nach einiger Zeit brach Abba das Schweigen zwischen ihnen. »Was ist mit deinen Eltern?«, fragte er. »Sind sie auch im Getto?«

      »Nein«, antwortete Vitka. Demütig senkte sie ihr Haupt. »Sie sind tot.«

      »Das tut mir leid. Wenn du möchtest, kannst du mir davon erzählen.«

      Vitka überlegte kurz, doch dann schüttelte sie nur den Kopf. Denn das Angebot ihres Anführers hatte dunkle Erinnerungen in ihr wachgerufen. Erinnerungen an den Tag, an dem sie ihren Eltern zum letzten Mal gegenübergestanden hatte. An den Moment, vor dem sie sich vorher immer gefürchtet hatte. Der Augenblick, in dem es hieß, für immer Abschied zu nehmen.

      Das letzte Mal hatten sie sich in der Kirche gesehen. In dem verlassenen Gotteshaus, in das die SS alle dreitausend Juden nach der Eroberung von Vitkas Heimatstadt gesteckt hatte. Kalisz, so raunte man in den Straßen, sollte zur judenfreien Zone werden. Am Morgen dieses Tages, der ihr letzter gemeinsamer Tag werden sollte, waren Vitkas Eltern noch verzweifelt durch die Stadt gelaufen. Hatten bis zuletzt versucht, irgendetwas in Erfahrung zu bringen, während Vitka derweil zu Hause auf sie gewartet hatte. Erst am frühen Abend waren sie zurückgekehrt.

      »Was geschieht nun mit uns?«, fragte Vitkas Mutter. Die Tränen in ihren Augen verrieten, dass sie die Antwort bereits zu kennen glaubte. Vielleicht hatte sie auch gehofft, dass Vitkas Vater ihr etwas anderes sagen würde. Dass er ihr versprechen würde, alles käme in beste Ordnung.

      Doch stattdessen nahm er ihr Gesicht in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wir werden umgesiedelt«, erklärte er. Das war es, was die Deutschen ihm, dem die familiengeführte Schneiderei gehörte, erzählt hatten.

      Am Abend klopfte es dann an ihrer Wohnungstür. »Los, alles einpacken und mitkommen!«, schrien zwei Soldaten mit vorgehaltenen Maschinenpistolen. Eine Viertelstunde später, nachdem sie eilig ihre Koffer gepackt hatten, bestiegen sie einen Lkw. Zusammen mit den jüdischen Nachbarn aus ihrer Straße quetschten sie sich auf die Ladefläche und fuhren in bedrückendem Schweigen durch die Dämmerung.

      An der Kirche angekommen, pferchten die Soldaten sie mit gellenden Pfiffen und Geschrei in das Gotteshaus. Draußen, vor den großen, bemalten Bleiglasfenstern, sahen sie ein hellrotes Flackern.

      Vitkas Vater begriff es als Erster. Für ihn waren die Fackeln der Beweis: Er war einem fatalen Irrtum unterlegen. In wenigen Minuten würde von den dreitausend Juden aus Kalisz niemand mehr am Leben sein. Verschlungen von den gefräßigen Flammen oder aber erstickt im Rauch des Feuers.

      »Du musst verschwinden«, befahl er Vitka augenblicklich. Mit Tränen in den Augen fiel sich die kleine Familie um den Hals. Da war er, der Moment, den Vitka am liebsten niemals, auf keinen Fall aber bereits in so jungen Jahren, erleben wollte.

      »Los, los!«, wiederholte ihr Vater. Er trennte Mutter und Tochter, die einander eng umschlungen hielten. »Gleich bleibt dir keine Zeit mehr!«

      Dann kämpfte Vitka sich durch die Menschenmenge. Fuhr ihre Ellenbogen aus, wie ihre Mutter es ihr befohlen hatte, und boxte sich so einen schmalen Weg frei. Schließlich entdeckte sie die winzige Kammer, von der ihr Vater gesprochen hatte, und quetschte sich durch ein enges Fenster mühsam ins Freie. Während sie zu dem nahe gelegenen Waldstück rannte, hörte sie Schreie und spürte in ihrem Rücken die Hitze der Flammen. Keuchend erreichte sie die erste Reihe der Bäume. Als sie einen Blick zurück riskierte, waren die Schreie bereits verstummt. Unendlich lange Sekunden später war Vitka die einzige noch lebende Jüdin aus Kalisz.

      Abbas mitfühlendes Nicken holte sie zurück in die Gegenwart.

      »Ich kann verstehen, dass du darüber nicht sprechen magst«, sagte er. »Mögen deine Eltern in Frieden ruhen.«

      »Danke«, sagte Vitka. »Ich hoffe sehr, dass sie es tun.«

      Hand in Hand marschierten sie weiter den Lichtern der Stadt entgegen. Ein zarter, am Horizont wabernder Schimmer, der ihnen den Weg leitete.

      Im Morgengrauen erreichten Abba und Vitka ihr Ziel. Von einem der bewaldeten Hügel, die Wilna wie eine Kette umschlossen, schauten sie herab auf die in einer Senke liegende Stadt. Im Dunst der frühen Morgenstunden hatte ihr Anblick etwas Malerisches. Gepflasterte Straßen schlängelten sich zwischen byzantinischen Ecken und zerfallenden Holzhäusern hindurch. Die Wilija, auf deren Wasser die wenigen Strahlen der Morgensonne tanzten, zog sich wie ein silbernes Band durch die Stadt. Vorbei an zahlreichen Kirchtürmen mit rostbraunen Kupferdächern, die sich in den Himmel streckten und einander wegen der engen Bebauung beinahe zu berühren schienen. Am Rande des Waldes, der an die Stadt grenzte, erhob sich majestätisch das Schloss.

      Abba liebte Wilna. Seine Familie lebte schon seit mehreren Generationen hier. Bevor die Deutschen einmarschiert waren, hatte er zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester in bescheidenen Verhältnissen in einem Haus gewohnt. Sein Vater hatte sich immer gewünscht, dass Abba seinen Lebensunterhalt auf praktische Weise verdienen würde – genauso wie er. Doch dabei hatte er die Rechnung ohne seinen Sohn gemacht. Denn Abba hatte nie etwas anderes im Sinn gehabt, als Künstler zu werden. Zeichnen, Dichten, Bildhauen – das waren die Dinge, für die er sich begeisterte. Unzählige Male war deshalb zwischen ihnen ein heftiger Streit entbrannt. Heute fragte Abba sich, ob sie dazu überhaupt jemals wieder Gelegenheit haben würden.

      »Du siehst traurig aus«, bemerkte Vitka.

      Erschrocken drehte Abba sich zu ihr herum. Wieder schaute sie ihn aus ihren kindlich-naiven Augen an.

      »Du hast recht«, antwortete er und nickte zaghaft. »Auch ich habe einen Teil meiner Familie verloren.«

      Die Große Provokation hatte Abbas Leben für immer verändert. Noch immer blitzten die Erinnerungen an diesen Tag regelmäßig in ihm auf: das ohrenbetäubende Poltern der Soldaten, die durch die Treppenhäuser gestürmt waren und jeden Juden verhaftet hatten, den sie in die Finger bekamen. Die flehenden Rufe der Menschen, die die Deutschen aus ihren Wohnungen auf die Straße geschleift, verprügelt oder an Ort und Stelle hingerichtet hatten. Unter Tränen hatte Abba mit angesehen, wie ein Soldat ein Baby an den Füßen gepackt und seinen winzigen Kopf so lange gegen eine Hauswand

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