Zorn der Lämmer. Daniel Wehnhardt

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Zorn der Lämmer - Daniel Wehnhardt

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glitzerten die Strahlen der Morgensonne im Schnee, sodass Abba sich schützend eine Hand vor die Augen hielt. Die zurückliegende Nacht saß ihm in den Knochen. Den Rotwein, der für seine Kopfschmerzen verantwortlich war, hatte ein Schornsteinfeger für ihn ins Getto geschleust. Genauso wie die Zigaretten, den edlen französischen Käse, das Brot und die ungarische Salami. Als Anführer der Jungen Garde gehörte Abba zu den Privilegierten. Im Gegensatz zu den meisten anderen war es ihm möglich, an exklusive Dinge wie diese heranzukommen. Dinge, für die man im Getto getötet werden würde – nicht nur von den Deutschen, sondern auch von den anderen, von den hungernden Juden. Denn derartiger Luxus weckte Begehrlichkeiten.

      Abba wusste um sein Glück. Wie so oft, wenn er sich durch die engen Straßen des Gettos bewegte, wurde es ihm auch an diesem Morgen erneut vor Augen geführt.

      Die Bürgersteige waren voll von wandelnden Skeletten. Ein Mann, der Abba besonders aufgefallen war, sah aus, als wäre er in bettelnder Haltung eingeschlafen. Abba ahnte, was mit ihm geschehen würde. Er hatte dieses grauenvolle Schauspiel weiß Gott schon zu oft mitverfolgt. Bald würde eine deutsche Patrouille vorbeikommen und auf den Mann aufmerksam werden. Dann, weil er auf ihre Befehle nicht reagierte, würde es Knüppelschläge hageln. So lange, bis die Deutschen genug hätten und ihn schließlich in der Gosse liegen lassen würden. Dort würde sich niemand um den Leichnam kümmern, außer um seine Kleider, seine Schuhe und alles, was man auf dem Schwarzmarkt tauschen konnte. Der Wind, der an diesem Februarmorgen eisig durch die Straßen pfiff, würde den Leichengeruch bis in den letzten Winkel verteilen. Doch an ihn hatten sich die Bewohner bereits gewöhnt. Er gehörte dazu, lag wie eine Glocke über ihrem Viertel.

      Nun näherten Abba und Gero sich dem Gettotor. Sie stoppten an einer blut- und kotverschmierten Hauswand, vor der eine unscheinbare junge Frau stand, die auf sie zu warten schien. Sie trug einen schäbigen Mantel, auf dessen linker Brust ein Davidstern genäht war. Erst als sie das Tuch von ihrem Kopf abstreifte, erkannte Abba sie.

      Das durfte doch nicht …? Mit einem Schnippen schickte er Gero davon.

      »Ima«, sprach er die Frau mit dem hebräischen Wort für Mutter an, »was machen Sie denn hier? Im Getto ist es viel zu gefährlich für Sie.«

      Anna Borkowska lächelte. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie. Damit niemand sie belauschte, beugte sie sich zu Abba. »Ich möchte mich euch anschließen.«

      »Uns anschließen? Was meinen Sie?«

      »Den Juden. Ich möchte mit euch kämpfen.«

      Abba konnte nicht glauben, was er hörte. Waren Nonnen wie die Mutter Oberin nicht zu absoluter Gewaltlosigkeit verpflichtet? »Ich halte das für keine gute Idee«, sagte er deshalb.

      »Warum?«, fragte sie. »Gott ist auch im Getto. Und so wie ich das sehe, könnt ihr jeden Mann und jede Frau gebrauchen.«

      Womit sie recht hatte. Trotz der erfolgreichen Gründung der FPO waren Abbas Aufruf in der Silvesternacht bisher erst wenige gefolgt. Dem Widerstand mangelte es an Menschen, die zu allem bereit waren. Allerdings gab es etwas, das ihnen noch viel mehr fehlte. Diese Erkenntnis brachte Abba auf eine Idee.

      »Es ist zu gefährlich, wenn Sie ins Getto kommen«, sagte er. Noch bevor die Mutter Oberin ihm ins Wort fallen konnte, legte er einen Zeigefinger auf seine Lippen. Die Frau, ohne deren Mut weder er noch der jüdische Widerstand überhaupt existieren würden, verstand. »Wenn Sie uns unterstützen wollen …«

      Abba rückte dicht an ihr Ohr heran. Als er ihr seinen Plan ins Ohr flüsterte, weiteten sich Anna Borkowskas Augen.

      *

      Verstohlen wagte Jakob Gens einen Blick auf die Zeiger: Es war kurz nach halb drei Uhr morgens. Der Chef der jüdischen Polizei seufzte. Schon wieder, wie so oft in den letzten Wochen, hockte er auch heute bis spät in die Nacht in seinem Büro im Ratsgebäude. Während er aus seinen schmalen Augen über die steilen Dächer des Gettos sah, lockerte er zunächst seine Krawatte und knöpfte schließlich sein Hemd auf. Nur langsam breitete sich in ihm ein Gefühl der Entspannung aus.

      Wieder einmal hatten ihn die Listen, Dokumente und Aufzeichnungen, die er stets gewissenhaft durchstöberte, viel zu lang an seinen Schreibtisch gefesselt. Wie besessen hatte er auch heute nach Mitteln und Wegen gesucht, um das Überleben der Gettobewohner zu sichern – in der Hoffnung, dass sein Volk ihn dafür eines Tages als Held verehren würde.

      Davon war Gens jedoch noch weit entfernt. Für die meisten Juden aus Wilna war er nicht nur der Chef der verhassten jüdischen Polizei, sondern sogar noch etwas weitaus Schlimmeres. Einen Verräter nannten sie ihn, beschimpften ihn als Kollaborateur, der mit den Deutschen blutige Geschäfte einging.

      Wenn sie doch nur die Wahrheit wüssten, dachte Gens.

      Quälend lange Stunden hatte er mit Franz Murer in seinem Büro verhandelt. Nur dank seines taktischen Geschicks war es ihm gelungen, die Forderungen des stellvertretenden Gebietskommissars zu reduzieren. Der österreichische SS-Oberst hatte nach dreitausend Juden verlangt, die zum Arbeiten in den Osten deportiert werden sollten.

      Heute dachte Gens mit Stolz an diese Verhandlung zurück. Dass es ihm gelungen war, mehrere hundert Menschen vor der Deportation zu bewahren, betrachtete er als großen Erfolg, auch wenn die Menschen im Getto eine andere Meinung vertraten. Denn für sie war er von nun an derjenige gewesen, der dem Schlächter von Wilna Tausende Menschenleben geopfert hatte. Sie ahnten nicht, dass Murer ihm keine Wahl gelassen hatte. Dass er ihn damit erpresst hatte, die Selektion selbst zu übernehmen, falls die jüdische Polizei sie nicht dabei unterstützen würde.

      Diesen ganzen Ärger hätte Gens sich ersparen können. Hätte weiter in den höchsten Kreisen der Stadt verkehren, ungestört Zeitschriften und Bücher lesen sowie Konzerte und Theateraufführungen besuchen können. Alles Privilegien, die er dem Status seiner Frau, einer reichen Nichtjüdin, zu verdanken hatte. Sich der Verbannung ins Getto zu entziehen, wäre daher ein Leichtes gewesen. Gens hätte einfach nur seinen Namen ändern müssen.

      Doch obwohl ihn die Bewohner wegen seiner Position vermutlich nie als einen von ihnen akzeptieren würden, fühlte er sich ihnen dennoch verbunden. Für ihn kam es nicht infrage, sein Volk im Stich zu lassen, und so entschied er sich dafür, freiwillig ins Getto zu gehen. Wegen seiner damaligen steilen Karriere in der litauischen Armee, hatte ihn der Judenrat alsbald zum Chef der jüdischen Polizei befördert. Diese Position hatte ihm eine außerordentliche Machtfülle verschafft. Durch sie und mithilfe seines autoritären Führungsstils hatte Gens für Ruhe und Ordnung gesorgt. Jetzt, während der ersten Sommertage, lag daher sogar so etwas wie Frieden über dem Getto. Die Aktionen, wie die Deutschen ihre regelmäßigen Säuberungen nannten, hatten aufgehört. Für Gens war dies Beweis genug, dass seine Strategie die richtige war. »Wenn wir überleben wollen«, hatte er den Bewohnern stets gesagt, »müssen wir uns unentbehrlich machen.«

      Mit der Zeit war eine neue Gesellschaft im Getto entstanden. Eine eigenständige kleine Welt, die sämtliche Facetten des menschlichen Zusammenlebens beinhaltete. Es gab Mächtige wie den Schneider Weißkopf, der zweihundert Arbeiter beschäftigte und von allen nur »Getto­könig« genannt wurde. Wohlhabende und Neureiche wie die Schornsteinfeger, die auf den Dächern der Stadt arbeiteten und gegen Bezahlung Lebensmittel schmuggelten. Vor allem aber gab es unzählige Arme und Mittellose, die in ständiger Angst vor dem kommenden Tag vor sich hin vegetierten. Im Getto machten sie unbestritten die absolute Mehrheit aus.

      Sogar eine Art kulturelles Leben hatte sich entwickelt. Daran hatte Gens, der selbst vor allem an Literatur interessiert war, tatkräftig mitgewirkt. Einen seiner größten Erfolge verzeichnete er, als er bei Murer die Erlaubnis zur Veröffentlichung einer eigenen Zeitung heraushandelte. Im Getto-Anzeiger erschienen Artikel, Kommentare,

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