Träume von Freiheit - Ferner Horizont. Silke Böschen
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Читать онлайн книгу Träume von Freiheit - Ferner Horizont - Silke Böschen страница 6
Florence war ratlos gewesen. Genauso ratlos war sie immer dann, wenn wieder dieses Ziehen im Bauch einsetzte. Zuerst hatte sie geglaubt, ihre Periode kündige sich an. Doch sie blieb aus, die Bauchschmerzen nicht. Und sie hasste auf einmal den Geruch von frischem Kaffee. Eines Morgens konnte sie den Ekel nicht länger unterdrücken und stürzte vom Frühstückstisch, um sich über ihrer Waschschüssel zu übergeben. Ihre Mutter war argwöhnisch geworden. »Was ist los, Flossie, hast du dir den Magen verdorben?« Ihr Blick war durchdringend.
Florence hatte geweint und ihr erzählt, dass sie auf einmal keinen Kaffeeduft mehr vertrug und dass ihr morgens, gleich nach dem Aufwachen, schon schlecht wurde. Elizabeth Draper hatte den Hausarzt kommen lassen. Ihr Verdacht wurde bestätigt: Das Mädchen war schwanger.
Florence setzte sich auf und schüttelte die Kopfkissen aus. Dann sank sie zurück. Zum Glück hatte sie ihr eigenes Schlafzimmer. Jeden Morgen neben einem schnarchenden, nach Schnaps riechenden Ehemann aufzuwachen, war kein Vergnügen. Aber der kleine Henry hier, der sich so selig an ihre Seite schmiegte, der war ein Glück! Sie streichelte über seinen Kopf.
»Jetzt müssen wir zwei aber wirklich aufstehen«, sagte sie leise. »Gleich kommt Adele mit dem Kaffee. Und dein Vater darf nicht herausfinden, dass du hier bei mir bist.«
Der Junge ließ sich noch tiefer ins Bett sinken. »Ach, Mommy, ich mag aber nicht. Daddy wird sowieso wieder einen Grund finden, auf mich wütend zu sein.«
»Ja, ich weiß.« Bekümmert strich sie ihrem Sohn über die Wange. »Ich wünschte, er würde mich schlagen, aber das wagt er nicht. Mein armer Junge! Wir dürfen deinen Daddy nicht zornig machen. Hörst du?«
Das Kind nickte. »Aber ich habe manchmal so eine Angst vor ihm, dass ich gar nicht mehr antworten kann, wenn er mich etwas fragt. So wie gestern, bevor ihr ausgegangen seid. Ich sollte Vokabeln aufsagen. Aber mit einem Mal fielen mir die Wörter nicht mehr ein.« Er begann zu weinen.
»Sschh, sschh, beruhige dich, mein Kleiner. Ja, ich weiß, ich weiß. Es ist schlimm. Ich wünschte, ich könnte dich besser vor ihm beschützen.« Auch Florence’ Stimme klang auf einmal dünn. Sie sah die Szene vor sich, Henri kommandierte seinen Sohn vor sich wie einen Zinnsoldaten. Das Kind wurde von ihm selbst unterrichtet. Er wisse genug, um den Jungen auf das Leben vorzubereiten, hatte Henri erklärt und kategorisch ausgeschlossen, dass ein Privatlehrer ins Haus kam oder der Junge eine Schule besuchte. So hatte ihr Ehemann wenigstens eine Aufgabe, dachte Florence grimmig. Henri hatte nie in seinem erlernten Beruf als Bergbau-Ingenieur gearbeitet, sondern lebte vom Geld seiner Mutter. Er war Privatier. Vielleicht war das der Grund für seine dauernde Unzufriedenheit. Gestern war es besonders schlimm gewesen. Vielleicht hatte Florence ihn gereizt – mit ihrer guten Laune, der Vorfreude auf den Abend. Als der kleine Henry dann verzweifelt nach der richtigen Antwort suchte, hielt sein Vater das hölzerne Lineal drohend in der Luft. Er wartete gar nicht mehr auf eine Antwort, sondern ließ das dünne Stück Holz niedersausen. Der Vater packte seinen Sohn und schlug auf ihn ein. Das Kind schrie. Florence wollte ihm zur Hilfe eilen, in dem Moment zersprang das Lineal in drei Teile. Der Junge stürzte weinend in die Arme seiner Mutter.
»Ja, geh nur zu deiner Mutter! Wenn du so werden willst wie sie, Lieder trällern und feiern – mehr wird aus dir auch nicht, wenn du nicht endlich deine Hausaufgaben machst«, brüllte Henri mit rot angelaufenem Kopf und schwenkte den letzten Rest des Lineals in der Luft.
»Henri, wie kannst du so grausam sein?«, schrie Florence, außer sich vor Wut. »Was machst du denn, hm?! Was kannst du denn? Ich wünschte, du hättest eine Anstellung, dann würdest du uns endlich in Ruhe lassen.«
Henri atmete schwer. »Ah, jetzt halten Mutter und Sohn wieder zusammen. Das ist ja wunderbar. Da ist es doch gut, dass der Junge ab und zu eine Tracht Prügel bekommt, damit ihr zwei euch dann wieder in den Armen liegen könnt.«
Florence warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Komm, mein Schatz, ich bringe dich zur Kinderfrau. Minnie und du – ihr müsst zu Abend essen. Dein Daddy und ich sind heute Abend auf ein Fest eingeladen.«
Vorsichtig zog Florence die Bettdecke zur Seite und strich ihrem Sohn über den Rücken. »Tut es noch sehr weh?«
Der Junge nickte.
Die Kinderfrau soll dir wieder ein paar Umschläge mit kaltem Essigwasser machen. Dann wird es schnell wieder gut.«
Es klopfte. Vor der Tür stand das Dienstmädchen mit einer dampfenden Tasse Kaffee. »Guten Morgen, gnädige Frau. Welches Tageskleid möchten Sie heute zum Gottesdienst anziehen? Ich soll Ihnen vom gnädigen Herrn sagen, dass Sie alle heute den gesamten Tag bei seiner Mutter verbringen werden.«
Florence rollte mit den Augen. »Vielen Dank, Adele. Ich werde das grüne Kleid nehmen. Bitte legen Sie es heraus mit dem passenden Hut und den Handschuhen. Ach, und bitte bringen Sie mir noch ein wenig ausgepresste Zitrone für den Kaffee. Vielleicht kann ich damit die Kopfschmerzen verscheuchen.«
Das Dienstmädchen knickste und verschwand, um die Aufträge zu erledigen.
»Oh, Henry, mein Schatz, da hat sich Daddy gleich etwas Passendes überlegt, um uns den kompletten Sonntag zu verderben. Den ganzen Tag bei Großmutter Antoinette, wie soll ich das aushalten?« Sie ließ sich auf ihr Kopfkissen zurückfallen.
»Aber, Mommy, du hast doch mich!« Henry drückte sich an sie.
Florence rückte ein wenig von ihm ab und betrachtete ihren Sohn nachdenklich. Dieses Kind war ihre Freude. Ihr Glück. Aber dieses Kind war auch der Grund, weshalb sie heute Frau de Meli war – gefangen in einer Ehe, die beide Seiten unglücklich machte. Sie rieb sich die Schläfen. »Komm, mein Schatz, wir müssen uns fügen.«
4. Ein gewöhnlicher Sonntag
Dresden, 20. Februar 1881
Die alte Frau de Meli war stolz auf ihre biegsame Taille. Eng geschnürt, hatte sie sich bis heute eine schlanke Silhouette bewahrt. Das hatte Antony, ihrem Ehemann, gefallen. Er hatte sich gut ausgekannt mit »biegsamen Taillen« und schmalen Hüften. Zu gut. Und dennoch. Er fehlte ihr. Gerade erst war sein erster Todestag gewesen. Antoinette de Meli seufzte. Antony war immer diskret gewesen. Trotzdem war der Gedanke, dass er mit dem angeheirateten Vermögen ihrer eigenen Familie abwechselnde Liebschaften finanzierte, ein scharfer Stachel für Antoinette de Meli gewesen. Aber eine Scheidung kam für sie nicht infrage. Was Gott zusammengeführt hat, darf der Mensch nicht trennen, daran musste man sich halten. Leider galt dieser Grundsatz auch für die unglückliche Verbindung ihres Sohnes mit Florence.
Antoinette seufzte, als die Kammerzofe ihr die langen, grauschwarzen Haare kämmte.
»Oh, gnädige Frau, habe ich zu fest gebürstet?« Elsbeth war erst vor ein paar Monaten in den Rang einer Kammerzofe aufgestiegen, nachdem sich ihre Vorgängerin in die sächsische Schweiz verheiratet hatte.
»Nein, nein. Sie machen das sehr gut! Ich war in Gedanken.«
Erstaunlich, dass immer noch nicht alle Haare grau waren, dachte sie bei ihrem eigenen Anblick. Die Haare fielen wie ein schwerer Vorhang auf ihre Schultern. Die Dienstbotin kämmte weiter. Ganz gleichmäßig, von oben nach unten, immer wieder. Pro Strähne 50 Mal. Das hatte ihr die Herrin so eingeschärft. Es sei gut fürs Haar und für die Kopfhaut. Diese gleichförmige Tätigkeit erinnerte Elsbeth an ihr Zuhause. Dort,