Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales

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Vom letzten Tag ein Stück - Ute Bales

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habe. Hundert Sorten Brotaufstriche, Waschmittel, Shampoosorten. Im Tiefkühlregal finde ich Chicken Nuggets, Minutenschnitzel und Grillhähnchen, das Päckchen zu eins neunundneunzig. »Ist das nicht zu billig?«, frage ich Schommers Kläs, der in der gleichen Truhe wühlt. Kläs freut sich über das Schnäppchen, meint, dass nicht alles, was billig ist, auch schlecht sein muss und packt sich einen Vorrat in den Einkaufswagen. Es ist nicht lange her, da hatte er selbst noch Hühner. Sie brauchten einen Stall, eine Wiese, Körner und Wasser und was sonst noch alles. Täglich musste er sich kümmern. Es dauerte, bis sie ausgewachsen waren. Seine Hühner hätte man nicht für eins neunundneunzig bekommen. Wer kann überhaupt so ein Hühnchen zu eins neunundneunzig züchten? Unsere Bauern jedenfalls nicht.

      »Hühner halten lohnt sich nicht mehr«, sagt Tante Gretchen, der ich von den Billighühnern und Kläs erzähle. Sie gibt ihm und seinem Einkauf recht. »Gemüse lohnt sich auch nicht mehr. Guck doch mal, was du im Laden dafür bezahlst. Dafür kann sich hier keiner mehr krummschaffen.« Früher war sie stolz gewesen auf ihre Möhren, die dicken Kohlköpfe, die schönen Salate.

      »Die Leute sind bequem geworden«, meint Onkel Hein, der Mann von Tante Gretchen, und kritisiert Kläs. »Der würde, wenn er könnte, noch mit dem Auto in so ’nen Laden reinfahren. Kein Meter geht der mehr zu Fuß. Net mal in die Kirche.« Dass Kläs seinen Garten aufgegeben hat, können die beiden verstehen. Gartenarbeit ist Schwerstarbeit. Man muss sich ständig kümmern. Immer da sein. Ein Garten will jeden Tag seinen Herrn sehen. Aber Tante Gretchen will nicht mehr jeden Tag ihren Garten sehen. Von einem Urlaub auf Mallorca träumt sie und überlegt, aus dem Garten einen Rasen zu machen und ein paar Liegestühle aufzustellen. Vielleicht auch einen Swimming-Pool.

      Tante Gretchen, die richtig Margaretha heißt, ist Ende 60 und sieht verschafft aus. Sie ist eine von diesen Könnenden, die tatkräftig ist und weiß, wo es lang geht. Sie hat mich, meine Mutter und ein paar Nachbarinnen zum Namenstag eingeladen. Weiberkaffee nennt sie das. Als wir reinkommen, streift sie die Kittelschürze ab. Dann schwenkt sie mit einer doppelbödigen Etagere, darauf zwei Fladden mit Aprikosenmarmelade, an uns vorbei in die Stube, wo sie den Tisch ausgezogen, eine weiße Tischdecke darüber gebreitet und mit ihrem guten Porzellan gedeckt hat. Ein Apfelkuchen, eine Schale mit Schlagsahne, eine Platte Schnittchen stehen bereit. Gürkchen und Eier liegen kleingeschnitten obendrauf. Ich frage, ob ich helfen kann. »Nee, nee, lass. Dat geht schon.«

      Die Nachbarinnen sitzen schwatzend auf einer Eckbank um den Tisch. Sie haben sich herausgeputzt. Onkel Hein rückt mir einen Stuhl neben seinen. »Komm, setz dich neben mich.«

      »Ihr greift ja zu«, sagt Tante Gretchen, flitzt zurück in die Küche und kommt mit einer dampfenden Kaffeekanne zurück. »Fehlt noch was, vielleicht Zucker? Herrje, die Milch …«

      Weil ich keinen Kaffee mag, hat sie extra für mich Kakao gekocht. Die Frauen greifen zu. Geklapper von Kuchengabeln auf geblümten Tellern. Betti spricht mit vollem Mund. Sie fragt mich nach meiner Arbeit, will wissen, wann ich vorhätte zu heiraten und wie es mit Kindern aussähe. Zu lange warten könnte ich auch nicht mehr. Ich hätte mir denken können, dass sie so etwas fragt. Immerhin hatte Betti mit Mitte zwanzig schon vier Kinder und Kinder sind ihr Leben. Tante Gretchen schneidet den Fladden an und rettet mich. »Lass sie doch«, sagt sie, »muss doch jeder selbst wissen. Sie hat noch net den Richtigen gefunden. Und außerdem muss sie es ja net so machen wie du.« Backes Inge schätzt, dass das Leben in der Stadt wahrscheinlich ganz schön wild sei und kichert: »Wirste denn überhaupt satt? Bist ja so dünn.« Tante Gretchen behandelt mich wie ein Kind und kneift mich in die Wange. »Aber du gehst ja immer noch in die Mensa, gell? Dann brauchst du net selbst zu kochen. Lohnt sich auch gar net für einen allein.« Betti hat mal in einer Mensa zu Mittag gegessen, in Bonn, in der Uni, und schwärmt von riesigen Portionen. »Darfst du denn überhaupt noch rein? Dürfen da net nur Studenten rein? Wat zahlst du denn für so ein Essen?«, fragt sie und als ich ihr den Preis nenne, kreischt sie: »Dreifuffzig! Da kannste nix sagen! Da kannste wirklich nix sagen!« Ich rühre in meinem Kakao. Er hat eine Haut gebildet. Die Haut löst sich auf. Onkel Hein verschwindet im Keller, kommt mit zwei Flaschen Wein zurück, öffnet eine, es ist ein Jahrgangswein von der Mosel, gießt die Treverisgläser randvoll und stößt mit allen an: »Prost, auf euch!« Betti hebt das Glas, nippt am Wein, verdreht die Augen, meint, dass der Wein leicht nach Kork schmecke, ganz leicht, und tut so, als ob sie Ahnung hätte. Onkel Hein schüttelt den Kopf. »Dat kann ja gar net sein. Hat doch en Schraubverschluss. Haste dat denn net gesehen?« Alle lachen. Da wird Betti giftig, sie hat eine hohe Stimme, und nimmt noch einen Schluck, setzt das Glas kräftig auf den Tisch und fasst sich an den Haarknoten, der sich nicht fügen will: »Wenn ichs doch aber sage!«

      Renate steht auf, zieht den Rock zurecht. »Muss nur mal schnell wohin. Der Kaffee …«, sagt sie. Als sie zurückkommt, zwängt sie ihren Stuhl neben meinen und setzt zu einer langatmigen Geschichte über ihren Onkel Theo an und wie der als Baby ausgesehen hat. Keiner hört zu. Aber alle nicken. Sie ist die schönste am Tisch, natürlich nicht mehr so wie früher, aber noch schön genug. Wie Gretchen ist sie gut über 60, hat aber bedeutend weniger Falten. Allerdings ist heute der Pony durcheinandergeraten und die blondgefärbten Haare stehen ab. Es sind Haare, die zwanzig, dreißig Jahre Behandlung mit glühenden Lockenstäben und Wasserstoffperoxid durchlitten haben und trotzdem gut aussehen. Meiner Mutter hat sie mal verraten, dass ihre Haut so glatt geblieben sei, weil sie nie hätte draußen schaffen müssen. Sonne mache Falten und die Haut kaputt. »Landwirtschaft – ach, geh mir fort. Dat war noch nie wat für mich. Nee, der Dreck und all dat.« Sie sitzt mir gegenüber, hat als einzige lackierte Fingernägel, lässt sich noch mal eingießen, wechselt das Thema und prostet mir zu: »Also, wenn ich wieder jung wär, hätt ich auch studiert und wär hier abgehauen. Da hat man doch viel bessere Chancen, lernt interessante Leute kennen und so.«

      »Ach wat, interessante Leute. Die haben wir hier auch«, fällt Betti ihr ins Wort, »wenn du irgendwo Chancen hast, dann hier.« Renate hält dagegen. Sie reden über die Landwirtschaft, über einen Hof, der kürzlich aufgegeben hat und über die Arbeitslosenzahlen.

      »Ihr bedient euch doch.« Tante Gretchen unterbricht das Gespräch, äußert Sorge, dass ich nicht genug essen könnte und lädt mir fraglos ein Stück Apfelkuchen auf den Teller. Ich muss den Apfelkuchen loben, aber Tante Gretchen wehrt ab: »Der ist mir ein bisschen zusammengefallen. Ich hab ihn im neuen Ofen gebacken und dat muss man erstmal raushaben.« Beim Thema Backofen können alle mitreden. Es geht um Gradzahlen, Oberhitzen und Unterhitzen, bis Betti sich zu mir herüberbeugt und mich, während sie kaut, fest ins Visier nimmt: »Und? Haste deinen Bertram endlich gefunden?« Ich weiß nicht, was ich sagen soll, greife nach meiner Tasse. Betti macht weiter, immer noch kauend und schmatzend, das es kaum zu verstehen ist: »Der hat doch glatt gemeint, dat er die Welt retten könnt. Und jetzt hat er einfach alles stehn und liegen lassen! Und kein Mensch weiß, wo er ist.« Mit spöttischem Blick sieht sie zuerst auf mich, dann in die Runde, auf Zustimmung hoffend, und lacht. Diesmal rettet mich Onkel Hein. Er legt mir seine breite, warme Hand auf die Schulter. »Über Bertram wird heut net gesprochen. Erzähl uns lieber, wat du so machst. Schreibst du noch für die Zeitung?« Aber Betti hat immer noch nicht genug. »Und ich sag dir, den Bertram, den kannste total vergessen.« Ich richte mich auf, schiebe mir den letzten Bissen Apfelkuchen in den Mund und sage, während ich weiterkaue: »Ich vergess ihn aber nicht.«

      Ich weiß noch, wie ich mit Bertram in einem Weidenbaum an der Kyll herumkletterte. Es war später Frühling und wir kletterten so hoch wir konnten, was nicht besonders hoch war, weil die Weide sich dem Wasser zuneigte und wir aufpassen mussten, von den biegsamen Ästen nicht abzurutschen. Das Licht sickerte warm durch die winkenden Blätter mit den zu flaumigen Kätzchen versammelten Blüten. Manche waren dick und eiförmig, andere eher oval und grünlich gefärbt. Die Zweige flirrten zwischen hellem und dunklerem Grün; Blätter schimmerten. Wind kam auf, was sich unter dem Blätterdach wie ein leichter Regen anhörte. Ein Eichhörnchen huschte über uns hinweg. Es hatte an den Blüten geknabbert und ließ durch seine Bewegungen ein rötlichgelbes Pulver zu Boden rieseln. Es flitzte hinüber auf einen anderen Baum, von dort zum nächsten, ohne dass es mit seinen geschickten

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