Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales

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Vom letzten Tag ein Stück - Ute Bales

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im Dorf war erstaunt über Bertrams Verschwinden. »Der kann net weit sein«, meinte Hildegard, bei der ich Milch für meine Mutter holte und Pitter stimmte ihr zu. »Unkraut vergeht net.«

      Die Kinder wussten nichts. Die Leute vom Fußballplatz zuckten die Schultern. Meine Suche kommentierten sie mit leeren Sprüchen. »Reg dich net auf. Der kommt schon wieder …«

      Anne, die als Avon-Beraterin in viele Häuser kam, meinte, dass man ihn in Indien finden könnte. »Damit hatte er doch so einen Spleen.«

      »Ach was, Indien«, lachte Onkel Hein, dem ich davon erzählte, »deinen Bertram haben die Raben gefressen.« Er warnte mich, zu viel Buhai daraus zu machen. Aber von einem Buhai konnte gar keine Rede sein.

      Der Mann, der das Eierauto fuhr, meinte ihn schon mindestens sechs Wochen nicht gesehen zu haben. Tina, unsere Nachbarin, erzählte mir, dass sie ihn zuletzt mit einem auffallend großen Beutel Richtung Flecken habe gehen sehen. Kati, die ich ansprach, als sie in ihrem Garten werkelte, war sicher, ihm vor ein paar Tagen noch auf dem Friedhof begegnet zu sein. »Am Grab bei seinen Eltern war der. Aber meinste, der hätt mal gegossen? Sowat macht der ja net. Dat ist dem total egal!«

      »Ein paar Tage, das kann nicht sein«, sagte ich und sie winkte ab: »Herrje, so genau weiß ich dat ja auch net mehr. Dann war et eben letzten Monat oder vorletzten, jedenfalls hab ich den gesehen und dat is noch gar net lang her.« Obwohl sie erst seit kurzem Witwe war, trug Kati ein buntes Kleid mit Blumenmuster und ihre nackten Füße steckten in lila Birkenstock-Sandalen. Eine Witwe hätte früher Schwarz getragen, dachte ich. Mindestens ein Jahr lang.

      Bald wusste jeder im Dorf, dass ich ihn suchte, aber kein Wort, kein Zeichen, kein Wink. Nur verständnislose, ja spöttische Blicke und ab und zu die Frage, warum ich mir das antue. Als ob Bertram es nicht wert sei, vermisst und gesucht zu werden.

      Ich wartete auf Bertram. Tage. Wochen. Monate. Sitzend, stehend, liegend, herumgehend von Fenster zu Fenster, von Zimmer zu Zimmer. Sogar in den Zügen suchte ich ihn, auf Bahnhöfen, in Cafés, in Parks, in denen er nie war. Ständig wartete ich auf einen Brief.

      In seinem Haus, das ohne ihn leer war, suchte ich nach Spuren. Ich durchforstete die Post, fand seinen Adresskalender in der Küchenschublade, rief alle dort notierten Nummern an, auch welche, bei denen kein Name vermerkt war. Einmal hatte ich einen Buchladen am Telefon, ein anderes Mal die Müllabfuhr und eine Stimme vom Band. Nein, ich wollte keine Nachricht hinterlassen.

      Ich entwarf ein Suchplakat, kopierte es, steckte es mit Reißzwecken an Bäume, klebte es mit Tesa an Laternenpfähle und auf den Schaukasten vor der Kirche. Marianne, Wirtin vom Gasthaus zur Schauerbach, fixierte das Plakat mit Stecknadeln auf der Wand neben dem Spielautomaten. Sie kannte Bertram und verstand mich.

      Dann ging ich, die Plakate unterm Arm, zu Fuß in den Flecken, entlang der Kyll.

      Der Fußweg, den ich benutzte, war neu angelegt, sehr schön, und machte den Weg kürzer.

      Das Wasser der Kyll funkelte und fast war es so, als ob der Fluss ein Stück neben mir her liefe, wenn auch in eine andere Richtung, und ich war dankbar, dass er nicht auf direktem Weg in die Mosel strömte, sondern bei mir blieb auf diesem Fußweg und dann an unseren Dolomiten vorbeifloss, von denen ich einen Teil sehen konnte. Fünf Finger, eigentlich fünf Felsen, die aber aussehen wie die Finger einer Hand. Da oben war ich oft, auch mit Bertram. Ich erinnerte mich an Himmelsausblicke.

      Linkerhand lag ein Supermarkt und kurz überlegte ich, eines der Plakate über das Werbeschild zu kleben, verwarf die Idee dann aber, weil meine Handynummer vermerkt war und ich Ärger fürchtete. Außerdem hing das Schild zu hoch.

      In der Fußgängerzone hatte ich mehr Glück. Nach einer Stunde hingen sieben Plakate in Schaufenstern und Ladentüren. Immerhin.

      Vor dem Portal von St. Anna fragte ich nicht lange, sondern zückte den Klebestreifen. Wer hat Bertram zuletzt gesehen? Wer weiß, wo er sich aufhält?

      Die beiden Polizisten des städtischen Polizeipostens verzogen den Mund, als ich eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte. Ob wir verwandt seien? Seit wann Bertram denn weg wäre? Ob er niemals sonst weggewesen sei? Warum er mir hätte Auskunft geben sollen? Ob ich glauben würde, dass Bertram in Gefahr oder Opfer einer Straftat geworden sei?

      Ich sagte, dass Bertram allein lebt, dass ich aber eine Freundin sei, der er regelmäßig Briefe schreibe. Das ließen sie nicht gelten. Ich fand sogar, dass sie amüsiert wirkten, denn sie grinsten und die Blicke, die sie sich zuwarfen, sprachen Bände. Es käme nur dann zu einer Fahndung, erklärten sie mir, wenn der Verdacht bestünde, dass Bertrams Leben in Gefahr sei und dass ansonsten jeder das Recht habe, seinen Aufenthaltsort frei zu bestimmen, auch ohne dies seinen Freundinnen mitteilen zu müssen. Es sei also nicht Aufgabe der Polizei, Aufenthaltsermittlungen durchzuführen, wenn keine Gefahr für Leib oder Leben bestünde. »Wo kommen wir denn hin, wenn jeder einen Nachbarn, den er länger nicht gesehen hat, vermisst melden würde? Vielleicht will er Sie nicht mehr sehen? Hatten Sie vielleicht Streit?«

      11.

      Früher hatten Bertrams Eltern einen Hund. Er war zottelig und schwarz und lag, so oft ich kam, vor dem Ofen in der Küche. Er war irgendwann an einer bösen Krankheit verendet. Wie gut wäre es gewesen, wenn Bertram sich wieder einen Hund zugelegt hätte. So ein Hund hätte ihn sicher aufgestöbert.

      Aber er wollte keine Tiere. Auch keine Katze. Wenn schon ein Tier, dann eines, das nicht angefasst und gestreichelt werden wolle. Zum Beispiel ein Käfer. Oder ein Wurm. Solche Tiere mochte er, weil sie in ihrem eigenen Kosmos lebten. »So einem Wurm«, meinte Bertram, »sind wir doch vollkommen egal. Der sieht uns doch gar nicht, sondern hat seine eigene Welt, seine eigene Wahrnehmung. Anders als ein Hund.« Er mochte keine Tiere, die sich von Menschen beherrschen ließen. »Stell dir mal so ein Käferhirn vor. Sieht anders, hört anders, verarbeitet anders … Oder ein Bienenhirn. Wir sehen sie nach Honig suchen, stundenlang, oft weit weg von ihren Stöcken. Wer sagt denen, wohin sie fliegen sollen und wo es Nahrung gibt? Und wie kommen sie zurück zu ihren Waben? Überhaupt, versuch mal, Pollen aus einer Blüte zu saugen oder ein Spinnennetz zu stricken. Kannst du Seide spinnen? Nein, da werden wir uns nie hineindenken können. Dabei ist doch so ein Spinnennetz etwas so Feines, Kunstvolles … Und mindestens genauso viel wert, wie wenn wir ein Haus bauen!«

      Manches, was er sagte, fand ich klug, und über vieles musste ich nachdenken. Er hätte gerne mehr gewusst über die Zusammenhänge der Dinge, fragte sich, weshalb es Bäume gibt und Vögel und was ein Bach den ganzen Tag so macht und wem er nützt. Er erkannte, dass sein Wissen begrenzt war, ebenso seine Sinne. Über seine anderthalb Sprachen spottete er. Es machte ihm zu schaffen, dass er nie alles würde erfassen können. Deshalb hielt er auch Gott für möglich. Religion lehnte er ab. Hier hielt er es mit Marx und sprach von Volkes Opium.

      Schon vor dem Tod der Eltern ging er nicht mehr in die Kirche, was dem Vater egal war, die Mutter allerdings unheimlich aufregte. Er warf ihr an den Kopf, dass die Pastöre die Leute bevormundeten und maßregelten, dass sie Menschen in Not immer nur aufforderten, geduldig zu sein, anstatt ihnen zu helfen. Auch, dass die Kirche sich über alles stellte, dass sie die Frauen missachtete und den Leuten einredete, dass es Gerechtigkeit erst nach dem Tod gäbe. Was ihn auf die Palme brachte, war, dass gesagt wurde, Christen müssten treue Untertanen sein und Revolution sei Rebellion gegen Gott. Die Mutter hatte keine Argumente, um Bertram zurückzuholen.

      Was der Mensch selbstständig denkt und vor allem, was er über sich selbst denkt, ist entscheidend für sein Leben. Davon war Bertram überzeugt. Für sich selbst entschied er, bewusst zu leben und sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren zu wollen. Seine Zeit wollte er nutzen und eine Spur hinterlassen. Als ich ihn fragte, ob auch ich zu seinen wesentlichen Dingen gehöre, nickte er und machte

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