Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales

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Vom letzten Tag ein Stück - Ute Bales

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die Hand vor dem Mund, unterdrückten das Kichern, wurden rot im Gesicht und platzten manchmal heraus.

      Später drängte sich alles an der Kirchentür. Himmes’, Krämers, Klasens, Schellens, Cornesses, Dahms, Willars’, von Landenbergs, Durrys und Arnoldys wünschten sich einen schönen Sonntag, redeten ein bisschen, alles gesund und munter, lieben Gruß zu Hause, was machen die Kleinen? Dann tauchten sie die Finger ins Weihwasser, das ein bisschen abgestanden roch, aber immer nach Segen, als sei es von der Sonne gewärmt worden.

      Noch ein bisschen später sah man sie an den Gräbern stehen. Die meisten Gräber lagen um eine alte Linde, in deren Schatten am Sonntag, lange bevor die Messe endete, die Männer standen und redeten.

      Damals schon bewunderte ich Bertrams Anderssein, beobachtete, was er tat, war aber gleichzeitig von ihm abgestoßen. Es hatte etwas Herausforderndes, wie er in seinen ausgebeulten Werktagshosen lässig in der Bank saß, nicht mitsang, das Brustklopfen verweigerte und den Messdienern, wenn sie in ihren rotweißen Gewändern mit Opferstöcken durch die Reihen gingen, einen mitleidigen Blick hinterherschickte und einmal sogar schadenfroh auflachte, als einer der Ministranten über eine Treppenstufe stolperte. Nein, die Gläubigen waren keine Gesellschaft für ihn.

      »Der wird bald gar nicht mehr kommen«, meinten die Leute und in diesen Worten schwang genausoviel Vorwurfsvolles mit wie Besorgtes. Dass er sich nicht fügen könne, keine Regeln und keinen Anstand hätte, hörte ich sagen und sah in missbilligende Gesichter. Bertram wusste, was die Leute dachten und sagten. Es machte ihm nichts aus. Seine Überlegenheit imponierte mir. Ich hielt ihn für klug.

      Sonntags nach der Messe sah ich ihn manchmal in der Pfarrbücherei. Ich verfolgte seine Bücherauswahl, merkte mir die Titel. Sobald er sie zurückbrachte, lieh ich sie aus und las, was er gelesen hatte. ›Robinson soll nicht sterben‹ war dabei, oder ›Kein Winter für Wölfe‹.

      In jenen Jahren sprachen wir noch nicht über Bücher. Ohnehin redeten wir kaum. Wir trafen uns auch nie alleine, sondern immer mit anderen. Er hing eher mit den Jungs zusammen und ich mit den Mädchen. Ich erinnere mich an Nachmittage, an denen wir in seinem Schuppen spielten und in einem rostigen Opel, der dort abgestellt war.

      Sonntags ging Bertram mit seinem Vater wandern. Sie hatten eine richtige Wanderausrüstung mit Rucksack, festen Schuhen, Regenjacken und einer Vesper und kamen oft erst nachts wieder zurück.

      Bei uns waren die Sonntage eher Familientage. Die Vormittage verbrachte ich mit Lesen. Bis zum Mittagessen dauerte es. Mein Vater verspätete sich meist wegen des Frühschoppens und war beim Essen wenig gesprächig. Meine Mutter musste schon nachhelfen, wenn sie wissen wollte, was es an Neuigkeiten gab, wer im Dorf mit wem was angefangen hatte, wer miteinander im Streit lag. Zwischen den Gesprächen die Koteletts. Dazu dampfende Kartoffeln, Salat aus dem Garten mit Schnittlauch, Petersilie und Dill. Und Vanillepudding in geschliffenen Glasschälchen.

      Wenn mein Vater keinen Mittagsschlaf machte, was vom Ausmaß des Frühschoppens abhing, fuhren wir zu den Großeltern. Oder raus in den Tierpark nach Lünebach, wo Nasenbären, Strauße, Pfauenziegen und Uhus lebten. Die Pelmer Kasselburg gefiel uns mit den Greifvögeln und dem Wolfsgehege. Auch Manderscheid mit den beiden Burgen, wo wir in einem Ausflugslokal Cola tranken und goldene Fische in engen Teichen füttern durften. Wenn Namenstage auf Sonntage fielen, besuchten wir Verwandte oder wurden von Verwandten besucht. Josefstag, Gertrudstag, Annentag. Natürlich Sankt Matthias. Das war am 24. Februar und der Namenstag meines Vaters. Immer gab es Cremekuchen, Fladden3, Marmorkuchen. Am wichtigsten war der 19. November. Der Namenstag der heiligen Elisabeth von Thüringen. Dann saß meine Großmutter, die Elisabeth hieß, ab zehn Uhr morgens im Sonntagskleid und mit einer Goldkette um den Hals vor dem Telefon und nahm Glückwünsche entgegen.

      Bertram kannte keine Namenstage. Sein Kalender ging anders als unserer. Auch das lag an seinem Vater, der regelmäßig für Feste der Tugend, des Geistes und der Revolution sorgte, die immer zu ganz bestimmten Tageszeiten stattfanden und von Musik und französischen Liedertexten begleitet wurden. Die Monate waren anders eingeteilt und hießen Nebelmonat, Schneemonat, Windmonat, Keimmonat oder Hitzemonat. Er nannte sie mit ihren französischen Namen: Brumaire, Nivôse, Ventôse, Germinal oder Thermidor.

      7.

      Als wir Kinder waren, lebten fast alle in unserem Dorf von dem, was sie aus ihren Gärten und von den Feldern nach Hause trugen. Vor den Mahlzeiten bedankten wir uns für das Essen, sprachen ein Gebet, weil kein Bissen für uns selbstverständlich war und Mühe und Arbeit, aber auch Glück bedeuteten. Wir hatten alles, was wir brauchten, aus eigener Produktion, weshalb Einkäufe im Supermarkt selten und wenn, dann auf das Nötigste beschränkt waren.

      Bertrams Vater war einer der letzten in unserem Dorf, der daran festhielt und den Weg in die Stadt mied. Er misstraute den vielen Lockangeboten, den Waren, die von Gott weiß woher kamen, der immer größer werdenden Auswahl in den Regalen und mutmaßte, dass die Verbindung der Menschen mit der Natur abreißen werde und die Kinder in der Schule lernen müssten, wo die Milch herkommt. »Die billigen Supermarktangebote lenken uns von allem Wichtigen ab und lassen uns glauben, dass sie unser Leben besser und glücklicher machen. Sie geben uns das Gefühl, dass wir Land und Felder nicht mehr brauchen. Die Jungen wissen bald nicht mehr, ob sie eine Kuh oder einen Esel vor sich haben.« Ich habe seine Stimme noch im Ohr. Er fluchte auf das Wirtschaftssystem, auf den Kapitalismus und das überzogene Konsumverhalten. Er war der erste, den ich über vergeudete Energien sprechen hörte, über Hitzeperioden und Katastrophen, die auf die Menschen zukämen, wenn wir diesen Lebenswandel beibehalten würden. Er sammelte den Dreck am Berg auf, den die Leute hinterlassen hatten: Plastiktüten, Bierdosen, Zigarettenstummel, Klopapier, Radkappen. Sogar Autoreifen bugsierte er bergabwärts.

      Nicht alles, was er sagte, verstand ich. Es war so ein Gefühl für etwas Fernes, Zukünftiges, das er mir vermittelte. Im Dorf genügte das, was er sagte, um ihn zu verurteilen. Narrisch sei er geworden. Gleiches dachten sie über Bertram.

      Bertrams Vater kam aus dem Norden und fühlte sich zeitlebens wie ein Ausländer. Er sprach eigentümlich, betonte die Endungen anders als wir und auch nach Jahren in unserem Dorf blieb seine Satzmelodie eine andere. Er sah auch anders aus, hatte flachsblondes Haar und graue, tiefliegende Augen, die er Bertram vererbt hat. In wadenlangen Hosen kam er daher, darüber trug er ein blaugefärbtes Hemd mit steifem Kragen. Sein grauer Filzhut mit der blauen Kordel war auf merkwürdige Weise längs der Krone nach unten geknickt und vorne an beiden Seiten eingekniffen. Ich weiß nicht, wie er es aushielt, aber selbst an heißesten Sommertagen setzte er ihn nicht ab.

      Das Leben auf dem Land hatte er sich idyllisch vorgestellt. Ein Einklang mit der Natur. Ruhe hatte er sich erhofft und Beschaulichkeit in einem eigenen Garten mit eigenem Gemüse. Er mochte die alten Holzkassetten in der Bauernstube, das Holzlager im Schweinestall mit den Pflöcken, die Weizenfelder, das unberechenbare Wetter, war er doch in der Stadt mit Wetter nicht wirklich konfrontiert gewesen. Er mochte es, wenn er im beginnenden Herbst alleine draußen war. Dann hatte er das Land für sich und konnte die Kraniche beobachten, wie sie sich formierten und für die Reise nach Süden rüsteten oder die Schwalben, wenn sie abends in den Wind schossen.

      Unabhängig wollte er sein, fuhr mit seinem Getreide zur Mühle, backte sein Brot selbst, räucherte Speck und Schinken, bewirtschaftete seinen Garten und die Felder, hielt neben allerhand Vieh schwarze Hühner und einen bunten Hahn, und war stolz, nicht viel hinzukaufen zu müssen.

      Sein wertvollster Besitz war ein Grammophon. Es war ein schwarz lackierter Holzkasten mit einem Lautsprecherhorn und der Abbildung eines Hundes, dem die Schriftzeile »His masters voice« galt. An der Seite befand sich eine abnehmbare Kurbel zum Aufziehen der Feder des Antriebswerkes. Zum Grammophon gehörte eine Schallplattenkassette und eine Nadel, die einer speziellen Dose entnommen am Ende des Abtastarms eingesteckt und fest verschraubt wurde. Das Grammophon hatte er mit in die Ehe gebracht und es gehörte zu seinem Sonntagvormittag,

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