Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales

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Vom letzten Tag ein Stück - Ute Bales

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liegen aufgetürmt. Straßenbesen warten mit abgeschrubbten Borsten. Auf der Fensterbank verstauben Mittel gegen Kartoffelfäule.

      An seinem Haus hat Bertram nie etwas verändert, nicht einmal eine Wand gestrichen. Obwohl er jedes Jahr einen Abreißkalender von der Sparkasse geschenkt bekommt, steht der in der Küche auf dem 6. Juni 1978. An diesem Tag starb seine Mutter. Der Kalenderspruch passt für die Ewigkeit: Solange man lebt, ist nichts endgültig.

      Ansonsten schmusende Porzellankatzen und ein Nikolaus aus Plüsch zwischen Tassen und Eierbechern auf der Ablage über der Spüle. In der Ecke eine Bank und zwei Klappstühle um einen Tisch mit einer geblümten Plastiktischdecke. Der Herd ist alt und voll eingebrannter Stellen auf den Kochfeldern. Die Kühlschranktür hängt schief. Kleine Zettel sind aufgeklebt, mit Terminen, die längst vergangen sind. Die Resopaloberfläche des Küchenbuffets ist matt geworden, die Schubladen schließen nicht. Die Schiebetüren der Hängeschränke haken, aber das ist Bertram egal. Das einzig Schöne in der Küche ist ein gusseiserner Ofen aus der Eisengießerei in Quint, mit Löwenfüßen und einem verzierten Aufsatz. Ich habe nicht erlebt, dass er benutzt wurde.

      Im Wohnzimmer hat sich nie einer aufgehalten. Düster ist es dort, schon wegen der dichten Vorhänge. Zinnkrüge stehen in einer Schrankwand aus Eiche massiv neben Vasen aus Bleikristall. Daneben ein Röhrenfernseher auf einem Holzgestell. Zwei schwere Sessel sind um einen Couchtisch mit Marmorplatte gruppiert. An der Wand Karnevalsorden, die der Vater gesammelt hat und ein Foto der Abtei Maria Laach. Die Bücherregale reichen vom Boden bis an die Decke. Die Bretter biegen sich vor Ordnern, Heftchen, losen Blättern und Fotoalben. Die Bücher stehen ohne System; manche sind mit dem Rücken hineingeschoben worden, so dass man die Titel nicht lesen kann. Es sind gute Sachen dabei: Thomas Mann und Balzac, Keller und Raabe, Tolstoi und Dostojewski, alles von Storm und Fontane, ebenfalls von Rilke. Die Bücher haben braune Flecken. In manchen stecken Lesezeichen.

      Bertrams Zimmer ist das Chaos selbst. Sogar an heißen Tagen ist es klamm dort und riecht nach Holz und Winter und Räucherstäbchen. Spinnen leben sorglos.

      Über der Tür hängen ein grauer Arbeitsanzug und ein kariertes Flanellhemd. Neben dem Bett, auf dem Boden, liegt ein Kassettenrekorder mit geöffneter Klappe. Daneben steht eine Rotweinflasche, in der eine Kerze steckt, die das Etikett zugetropft hat. An einer mit Stoff bespannten Lampe dreht sich eine Papierblume. Postkarten sind an die Wand geklebt: Grüße vom Bodensee und von den Kanarischen Inseln. Dahinter stecken Vogelfedern. Vor dem Nachtschränkchen liegt ein filzig gewordenes Schaffell. Auf der Fensterbank staubt ein Sammelsurium: ein Flummi, eine Taschenlampe, ein Stück Kordel, eine Glühbirne, eine Muschel und ein abgegriffenes Tütchen Natron.

      Rechts vom Schrank und unbedingt erwähnenswert: Bertrams Gitarre und das Klavier der Marke Irmler, schwarz poliert mit goldenen Medaillen.

      Bertram besitzt eine ungewöhnliche Plattensammlung. Er hat alles von Miles Davis, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk und Charlie Parker. Um eines seiner Stones-Alben beneiden ihn alle: die Originalausgabe von Sticky Fingers, die mit der Jeans und dem Reißverschluss. Auf CDs verzichtet er, schwört auf die Qualität seines Plattenspielers.

      Bertram steckt in einer anderen Zeit. Anders als meine sind seine Erinnerungen Teile der Gegenwart. Alles, was passiert, ist für ihn eine Folge von Verkettungen und hat immer eine Ursache. So glaubt er, dass das Haus, in dem er wohnt, Teil einer unendlichen Geschichte ist, so wie er selbst. Ein Netz von Zusammenhängen eben, mit unzählbaren Verzweigungen. Er ist sicher, dass er sich in einem Raum bewegt, der in seinem Inneren längst angelegt ist und dass dieser Raum etwas von ihm erwartet, dass er sich also nicht umsonst zu exakt dieser Zeit genau hier aufhält. So ähnlich sagt er das.

      Seit die Eltern tot sind, hat er sich keine Klamotten mehr gekauft. Er meint, dass man der Kleidung Zeit geben müsse, sich dem Träger anzupassen und man sie deshalb nicht allzu häufig wechseln dürfe; er bleibt bei Jeans mit Nietengürtel und Tennissocken, einer abgeschabten Lederjacke und seinem Pferdeschwanz, durch den sich früh schon graue Strähnen ziehen. Sein Gesicht ist mager und sieht besonders an den Wangenknochen so aus, als hätten sich alle Muskeln dort versammelt. Eine Haarsträhne hängt ihm permanent in die Stirn, teilt das Gesicht und scheint von einer Kerbe am Kinn gleichsam fortgesetzt zu werden. Die Augen sind grau und nachdenklich, jedenfalls oft. Der schwarze Pulli, den er fast immer trägt, ist an den Ärmelbündchen geriffelt und löchrig. Seine Brille – das Gestell hat einst dem Großvater gehört – hält dank transparentem Klebeband. Die Fingerspitzen, besonders Zeigefinger und Mittelfinger, sind braun vom Nikotin selbstgedrehter Javaanse Jongens. Er dreht immer mehrere Zigaretten auf Vorrat, weil der blondkräuselige Javaanse so schnell austrocknet und ins Pulvrige wechselt, obwohl Bertram zur Tabakbefeuchtung Apfel- oder Möhrenscheibchen in die Packung legt.

      Bertram fährt einen VW-Bus, mit dem er in jungen Jahren nach Indien wollte, eine Reise, die er schließlich trampend realisierte und von der er außer Gelbsucht, die er sich bei einem Tätowierer eingefangen hatte, ein anderes Lebensgefühl mitbrachte.

      Bertram lebt allein. Allenfalls hätte er mit einer Frau so leben wollen wie Sartre mit Simone de Beauvoir. Frei. Heiraten und Familie, nein, das ginge nicht, sagt Bertram.

      Obwohl ich ihm zu einer Waschmaschine geraten und auch erklärt habe, wie man 30-, 40- und 60-Grad Wäsche sortiert, füllt er von Zeit zu Zeit die Badewanne mit Wasser, streut Waschpulver hinein, weicht Kleidung, Handtücher, Unterwäsche und Bettbezüge in bläulichem Schaum, walkt alles durch, wringt die Stücke, bis seine Hände rot werden, und behängt die Leine auf der Wiese.

      Waschmaschinen kauft man nicht, sagt er. Man müsse nur abwarten, es gäbe genug davon, Luxusmüll. Irgendwann würde er eine finden, abgestellt irgendwo an der Straße, mit kleinen Defekten, die leicht auszubessern wären. So sei es auch mit Fernsehern. Die kaufe man genauso wenig. Sobald es kleine technische Änderungen gäbe, bräuchte man nur auf den Sperrmüll zu warten.

      Bertram nennt unser Dorf ein Kuhdorf. Ich widerspreche. Ein Kuhdorf ist unser Dorf nicht, denn Kühe gibt es kaum noch, jedenfalls keine glücklichen. Die, die noch da sind, leben zwei Kilometer entfernt, gehören einem holländischen Milchbetrieb und haben noch nie den Himmel gesehen. Trotzdem schreibt der Betrieb ›Weidekühe‹ auf die Milchtüte. Die Kühe dort werden jeden Tag dreimal gemolken, nicht, wie es sich gehört, zweimal. Ich habe gelesen, dass es Hochleistungskühe sind, die rund 18.000 Liter Milch pro Jahr geben, was Bertram für unmöglich hält. Das wären nämlich im Schnitt 50 Liter pro Tag. Eine glückliche Kuh auf der Weide gibt nur 20 bis 25 Liter Milch. Das ist den Holländern zu wenig. Das geht zu langsam. Schneller muss es gehen, schneller. Kilometerweit stinkt Gülle. Die Weiden sind voll davon.

      »Die Kühe haben zu tun«, sagt Bertram, verzieht den Mund und schiebt ein leises Pfeifen durch die Zähne. Während er nach den Pflanzen auf dem Fensterbrett sieht, mit den Fingern die Erde um die Wurzelstöcke lockert und dann verschrumpelte Blätter abknickt, meint er, dass sich sein Vater im Grab umdrehen würde, wenn er wüsste, wie die Leute heute mit dem Vieh umgehen. Aber das bezweifle ich. Bertrams Vater ist nämlich eingeäschert worden, und es steht fest, dass für Eingeäscherte dieser Spruch nicht gelten kann.

      3.

      Noch klingt in meinem Dorf das Lachen und Schwätzen der einstigen Bewohner wider.

      Unser Dorf: zwei Bäche, ein Fluss. Oos, Dreesbach, Kyll. Überhaupt ein Netz von Bächen und Gerinnen, die alle der Kyll zustreben, wo früher in tiefen Tümpeln die Forellen standen und ich mich mit meinem Vater an Sommerabenden durch den Wildwuchs der Böschungen kämpfte und vom funkelnden Ufer aus, in der Schnakenwildnis, Aalschnüre auslegte, die wir am frühen Morgen wieder einholten.

      Eine Quelle haben wir auch. Wir nennen sie Drees. Ein Dreesmännchen, uralt und hutzelig, mit blauem Hut, hat früher unten gesessen und Blasen heraufgeschickt. Man brauchte nur Geduld. Es zeigte sich nicht gerne. Es wohnte dort, wo die Tiefe

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