Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales
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Wenn am Gründonnerstag die Glocken nach Rom flogen, kamen die Jungs mit ihren Holzklappern, den Rätschen und Raspeln. Morgens, mittags und abends. »Et löckt Bätklock!« Dann scharfe, schneidende und knallende Geräusche. Für Mädchen verboten, sagten sie, wenn wir mitmachen wollten. Auch Bertram war damals wenig tolerant.
Am Ostermorgen war unsere Kirche voller Gesang, der sicher in den Mauern geblieben ist.
»Halleluja, Jesus lebt, Jesus lebt, Jesus lebt, hallelu-u-ja–a Jesus lebt!« Draußen auf dem Parkplatz vor der Kirche dann Nummernschilder aus Düsseldorf, Köln, Trier. Nachmittags Türme von Cremekuchen. Auf der Wiese warfen wir hartgekochte Eier in die Luft.
An Pfingsten, wenn die Gegend gelb war vom Ginster, baute der Schützenverein auf dem Platz vor der Schule ein Zelt auf. Flatterfähnchen in grün-weiß, vor dem Zelt eine Schiffschaukel und ein billiger Jakob mit allerhand Tinnef. Drinnen eine Drei-Mann-Band und Onkel Nikla, der sein Glas gegen die Musikanten erhob und schrie: »Frau Wirtin, eine Lage für die Mussik!« Sie spielten Kasatschok für uns Kinder und Foxtrott für die Erwachsenen, die schunkelten und lachten und grölten und später, am Stand der Bitburger Brauerei, schwankend von Bier und Schnapsseligkeit, versuchten, uns Kinder nach Hause zu schicken.
Immer wenn die Schützen ihre grünen Anzüge mit Orden und Ehrenabzeichen anzogen, die Hüte mit den Schützenfedern aufsetzten und Fahnen und Gewehre schulterten, schien die Sonne. Für Glaube, Sitte und Heimat.
An St. Martin verbrannten wir nach dem Fackelumzug unterhalb des Berges, an einer Fichtenschonung, alte Reifen und Holz. Das Feuer war weithin zu sehen, erhellte unsere Gesichter und strahlte bis hinauf in den Himmel.
Zu Weihnachten baute Berni, unser Küster, zu Füßen der Madonna eine Krippenlandschaft auf mit einem Ziehbrunnen, Palmen und Schafen und einem Mohr, der den Kopf nickend bewegte, wenn man ihm Geld in den Schlitz vor seinen Knien einwarf.
Schön war das und vieles andere auch, was mir jetzt nicht mehr einfällt, aber auch zu uns gehört hat.
Aber nein, in einer Idylle lebte niemand.
6.
Untereinander sprachen wir Moselfränkisch, einen Dialekt, der etwas Treuherziges und Gemütliches hat und den ein Fremder nicht lernen kann. Wir zählten uns zu den Rheinländern, denen man Fröhlichkeit nachsagt. Aber fröhlich waren wir eigentlich nur an Karneval und vielleicht zu den Dorffesten. Richtige rheinische Frohnaturen waren kaum darunter. Dass das an der kargen Gegend läge, meinte Bertram. Ich solle mir mal die Weingegenden ansehen, dort ginge es anders zu.
Mit Wein, Weib und Gesang war es bei uns wirklich nicht allzu weit her. Dafür aber mit den Christenpflichten. Anders als Bertram ging ich als Kind gerne in die Kirche. Ich mochte die Heiligenbildchen, die in meinem Gebetbuch lagen. Auch die Bilder der Kreuzwegstationen gefielen mir, wenn sie auch mit einem Schauer verbunden waren. Dennoch konnte ich den Blick nicht abwenden: Wie brutal die Soldaten Jesus durch die Straßen Jerusalems trieben, wie schmerzgekrümmt er unter dem Kreuz lag. Wie gut es war, dass Simon ihm beim Tragen half und Veronika ihm ein Schweißtuch reichte. Die Nägel, das Kreuz, durchbohrte Hände und Füße – die Kirchenwände erzählten Grausames. Von den Kreuzwegbildern konnte ich immer nur einen Ausschnitt sehen. Wenn ich mich zu weit aus der Bank beugte, drehte mir meine Mutter den Kopf zurecht. »Guck nach vorne!«, flüsterte sie.
Zu Hause, über meinem Bett, hing ein Bild von Jesus mit Heiligenschein, der mit beiden Händen ein blutendes Herz mit Strahlenkranz hochhielt, aus dem ein Kreuz aufragte. Das Bild beschäftigte mich. Es schien zu pulsieren. Was machte Jesus da? Woher hatte er das Herz? Ich hatte oft beim Schlachten zugesehen und dachte, dass er es vielleicht daher hätte, obwohl die geschlachteten Herzen anders und längst nicht so schön aussahen.
Ich mochte auch die einfachen Gebete, betete ernsthaft und ehrlich, auch, wenn ich nicht alles verstand und vieles nur auswendig gelernt war. Viele Worte blieben mir ein Rätsel. Gebenedeit zum Beispiel. Ich verstand nicht, weshalb wir ständig um Erbarmen baten und wie das Lamm Gottes es schaffen sollte, uns die Sünden hinwegzunehmen. Trotzdem schien mir alles gut und lebendig, wohl, weil ich etwas zu verstehen glaubte, das über die Bedeutung der Rituale hinausging. Gleichzeitig fühlte ich mich fremd und gar nicht darin aufgehoben. Ich empfand, dass ich mit Christus leiden müsste, ob er mir nah war oder nicht. Ich verstand, dass er für uns Sünder gestorben war, also für unsere Sünden, und dass wir für die Sünden anderer leiden müssten als wären es unsere eigenen, dass wir aber im Leiden eine heilende und reinigende Kraft finden würden.
Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel kommʼ.
Die Kirche war voll damals. Nur Bertram fehlte gelegentlich, was man seinem evangelischen Vater ankreidete. »Dafür kann der Jung nix.« Dass er, wenn er kam, seine Werktagshose trug und die Haare nicht richtig gekämmt hatte, wertete man hingegen als Versäumnis der Mutter, der man nachsagte, nicht besonders ordentlich zu sein.
Für uns hingegen gab es keine Ausnahmen. Kein Widerwort. Sonntagspflicht. Wer nicht in die Kirche geht, kommt nicht in den Himmel.
Die Frisuren saßen akkurat. Auch die Kleider. Keine Knitter, keine Löcher, keine Laufmaschen. Keine Bartstoppeln. Niemand wäre in Jogginghosen gekommen.
Vorne im Altarraum eine riesige Christusfigur aus Holz, mit unnatürlichen Proportionen und trotzdem gut geraten, furchterregend groß, besonders Hände und Füße, aber das hat wohl so sein sollen. Über dem Haupt mit Dornenkrone ein Täfelchen: INRI. Jesus Nazarenus Rex Judaeorum. Riesige Nägel hatte man der Figur durch Hände und Füße gebohrt und ein viereckiges Loch in die Rippen gestoßen. Überdies war die Figur sehr mager, aber jeder wusste ja, was Jesus an seinen letzten Tagen durchgemacht hatte.
Zu Jesu Füßen der Tabernakel, das Taufbecken, der Altar, der Blumenschmuck.
Ganz vorne in den ersten Reihen die Kinder. Mädchen links. Jungen rechts. Frauenseite. Männerseite. Sogar die Heiligen, die von den Fenstern leuchteten, hatten sich dieser Ordnung unterworfen. Auf der Männerseite Aloysius, Sebastian, Antonius von Padua und der gute Hirte. Auf der Frauenseite Margaretha, Agnes, Elisabeth und Anna. Elisabeth gefiel mir am besten. Wohl wegen der Rosen, die sie in der Schürze trug, und die, je nach Licht, rote Muster auf die hellen Bodenplatten warfen.
Vom Ducksaal2 aus, wo der Chor saß und ein paar Alte, die glaubten, ein Anrecht auf einen Platz zu haben, trafen Leuchtziffern die linke Wand über einer Madonna mit Jesuskind: 257, 1. Strophe. Finger anfeuchten, blättern im Gebetbuch, Orgelmusik, Gesang: Großer Gott, wir loben dich; Herr, wir preisen deine Stärke. An der Orgel saß Lorse Maria. Alle nannten sie so, also mit dem Nachnamen zuerst. Sie dirigierte nebenbei den Kirchenchor. Schwungvoll griff sie in die Tasten, ließ gelegentlich, je nach Stück, mit den Bässen ihres Instruments den Bau fast explodieren.
Aufstehen. Knien. Sitzen. Lasset uns beten. Weihrauchgeruch.
Stehend bekannten wir unseren Glauben, indem wir uns an die Brust klopften, als wollten wir ihn damit fixieren. Die Fürbitten des Küsters, klar und kräftig vorgetragen, die Kehrreime der Psalmen, das Gemurmel der Gebete empfand ich wie Rauschen in einem Bienenstock. Ob alle sooo gläubig waren, wie sie taten, weiß ich nicht.
Wir Kinder waren gehalten, uns zu schicken. Kein Mucks. Was nicht einfach war, wenn Tante Anni hinter uns saß, die sich ständig im Text verhaspelte und beim Singen eine ungewöhnliche Oberstimme