Vom letzten Tag ein Stück. Ute Bales
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Vielleicht hatte er etwas, eine Krankheit, und niemand wusste davon. Bertram, komm zurück. Alles soll wieder so sein wie es war und alles soll so bleiben.
Meine Unruhe wuchs. Ich telefonierte mich durch seine Freundschaften. Es kamen nichtssagende Sätze. Dass er in letzter Zeit komisch gewesen sei, erfuhr ich.
Ich fragte meinen Chef nach Urlaub, bekam ihn und fuhr nach Hause. Über drei Monate war ich nicht dort gewesen.
Es war später Juli. Die Fahrt mit dem Zug war lang und die Schwüle im Abteil machte müde. Ab Mannheim dann Regen, der nur wenig für Abkühlung sorgte. Tropfen klatschten gegen die Scheibe. Vom Wind getrieben bewegten sie sich ruckweise voran. Einige waren schneller als andere, vereinigten sich mit den langsamen. Das Abteil war voll, ich hielt die Tasche auf dem Schoß und horchte nach dem Rattern der Räder, einem Geräusch, das sich veränderte, wenn der Zug über Weichen fuhr. Ein Kind flüsterte, eine Frau kramte in einem Beutel, Papier raschelte. Das Kind kaute.
Der Mann, der mir gegenüber saß, zog eine Zeitung aus der Tasche, blätterte und las. Auf der Rückseite war das Foto eines Radfahrers in einem gelben Trikot abgedruckt. Der Titel klang wenig spannend: »Wie geht es weiter mit der Tour de France?« Der Mann las eine Weile, dann faltete er die Zeitung zusammen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Zeitung lag jetzt auf seinen Knien. Die fettgedruckte Schlagzeile sprang mir ins Auge: Erdoğan – der türkische Albtraum. Und: Der Islamische Staat verübt ein Massaker an den Jesiden in Kocho. Weiter unten las ich, dass sich die Hälfte aller Deutschen durch Lärm belästigt fühle. Der Bericht ging weiter auf Seite 3, wo es zudem um die Meere gehen sollte und die Belastungen, die durch Überfischung und Überdüngung entstanden waren.
Ganz unten dann noch das Foto einer winkenden Dame mit Hut: Elizabeth The Second, Queen by the grace of God. Ich erfuhr, dass die Queen das Pferderennen in Ascot besucht hat und als Besitzerin und Züchterin von englischen Vollblütern alle Rennen verfolgt, an denen ihre Tiere beteiligt sind. God save the Queen. Mitsamt den Hunden.
Ein Schaffner ging von Fahrgast zu Fahrgast, gab Auskünfte, scannte die Billets. Der Mann auf dem Sitz gegenüber wachte auf, schob die Zeitung zusammen und während er aus dem Fenster sah, sagte er völlig unvermittelt: »Es muss alles anders werden, alles.«
Draußen Straßen, Brücken, Dörfer und Mauern. Ab und zu Kirchtürme. Ein Nebeneinander von Punkten.
Hecken und Sträucher bogen sich in dem vom Zug verursachten Wind.
Die Schienen überwanden den Raum viel zu schnell. Machten ihn irgendwie gleichgültig.
Eine Schulklasse reiste mit. Kinder saßen ein paar Sitze weiter vorne und stimmten, aufgefordert von einer resoluten Lehrerin, die mit erhobenem Finger das Zeichen des Einsatzes gab, auf der Höhe von St. Goar, unterhalb des Loreleyfelsens, ein Lied an: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …« Lange blieb mir diese Zeile im Kopf. Sie passte zur Situation; sie passte zu Bertrams Verschwinden und klang irgendwie dunkel.
In Koblenz stieg ich in einen fast leeren Waggon um. Der Zug hatte Verspätung. Trotzdem hielt er überall, auch wenn niemand ein- oder ausstieg.
Es dauerte noch über eine Stunde, bis ich ankam. Die wenigen Reisenden, die mit mir den Zug verließen, verschwanden innerhalb von Sekunden.
Bis zum Dorf waren es zwei Kilometer. Ich ging zu Fuß, entlang der Kyll.
Die erste, der ich im Dorf begegnete, war Schniggischs Else. Sie stand, im Einkaufsnetz Salat und Möhren, ein Kind mit Schulranzen an der Hand, an der Bushaltestelle vor der Burg. »Wat machst du denn hier? Und so mitten in der Woch? Haste nix zu schaffen?« Als ich sie nach Bertram fragte, erntete ich einen vorwurfsvollen Blick: »Dat darf doch net wahr sein! Wegen dem biste hier?«
Auch meine Eltern wunderten sich, stellten aber keine Fragen.
Mein erster Weg führte die Dorfstraße hinauf, zu Bertram.
Der Regen hatte den Weg aufgeweicht und morastig gemacht. Bertrams VW-Bus parkte in hohem Gras und war, wie es aussah, lange nicht benutzt worden. Auf dem Dach hatten sich Moosflecken gebildet, unter den Scheibenwischern sammelten sich Laub und Zweige, der rechte Vorderreifen war platt und schien beinahe mit dem Boden verwachsen, strotzendes Grünzeug hatte es irgendwie in die Felgen geschafft.
Der Garten war verwildert, überall Löwenzahn und Giersch. Ein Schwarm ärgerlicher Spatzen erhob sich aus Nusshecken, wie aus der Hand in die Luft geworfen. Ein Hase duckte sich hinter einem Holzstapel und verharrte so still, dass ich seine blanken Augen sehen konnte.
Auch zwischen den Treppenstufen wucherte Unkraut. Wie eine kleine Laterne hing ein Wespennest über dem Eingang.
Der Briefkasten quoll über. Zeitungen, Wurfsendungen, Reklame. Die Stromrechnung. Der Kasten war so vollgestopft, dass ich alles mit Gewalt herauszerren musste. Postmüll von Wochen landete auf der Treppe.
Ich hatte den Schlüssel dabei, den Bertram mir mal gegeben hatte, stellte aber fest, dass ich ihn nicht brauchte. Die Tür war offen.
Ich rief.
Keine Antwort.
Ich rief wieder.
Im Flur war es dunkel. Ich drehte am Lichtschalter. Es war einer, den man noch mit Daumen und Zeigefinger bedienen musste. Der Strom war abgeschaltet.
Auf dem Küchentisch stand schmutziges Geschirr. Ein angefangenes Kreuzworträtsel und ein Kugelschreiber lagen neben einer angeschlagenen Tasse und Supermarkt-Prospekten. Dazwischen Brotkrümel. Der Aschenbecher quoll über vor Kippen. Auch Tabakbeutel und Feuerzeug lagen da, als hätte er sie eben noch in der Hand gehabt. Über Bertrams Stuhl mit der Sprossenlehne hing eine Strickweste. Auf der Spüle war eine Schale mit Zwiebeln zurückgeblieben, die lange Wurzeln in die Luft streckten. Daneben ein Rasierpinsel und verkrustetes Besteck auf dem Fliegen saßen. Am Fenstergriff baumelte ein getrocknetes Büschel Pfefferminze, gehalten von einer Paketschnur. Alles wie sonst. Sogar der Geruch nach Winter und Räucherstäbchen.
Nur dass Bertram nicht da war.
Ich schob die Gardine zur Seite, um Licht hineinzulassen, und öffnete das Fenster zum Garten. Frische Luft zog herein. Eine Fliege schreckte auf, ein dicker Brummer, bläulichschwarz. Er drehte eine Runde über der Spüle, kehrte zurück zum Fenster, und stieß seinen harten Kopf gegen das Oberlicht. Es war später Nachmittag. Irgendetwas musste Bertram mit der alten Zinkwanne vorgehabt haben, denn er hatte sie herausgeschleppt, bis unter einen der Apfelbäume, und mit Erde gefüllt.
Ich sah nach den Schwalben, die schreiend heranschossen, pfeilgerade in Richtung Dach, wo unter der Traufe ihre Nester klebten, Halbkugeln aus Lehm, den sie schnabelweise hinaufgeflogen hatten, um jetzt die Jungen zu füttern, die dort oben ihre breiten Schnäbel aufrissen. Geräusche von Sprengungen im Steinbruch rollten über den Wald. Ein Echo warf das Grollen zurück. Wie ein Gewitter hörte sich das an.
Das Licht in der Küche fiel in einem schrägen Winkel ein. Staub und Flusen schwebten leicht und anmutig wie Schneeflocken durch den Raum.
Von der Küche ging ich ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in Bertrams Zimmer. Die Gitarre lag auf dem Bett; der Klavierdeckel war zugeklappt. Ich tappte zurück durch den Flur, in die Küche, wo ich mich in seiner beunruhigenden Atmosphäre an den Tisch setzte, seinen Tabakbeutel, seinen Stift, sein Feuerzeug betrachtete. In einem anderen Garten ging ein Rasenmäher. Jemand schlug eine Autotür zu. Das Licht in der Küche veränderte sich,