Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket). Bernt Engelmann
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Читать онлайн книгу Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket) - Bernt Engelmann страница 4
»Das hätte ich mir niemals träumen lassen«, war meines Vaters melancholischer Kommentar zu Puttis und meinem Geschrei, wir hätten gewonnen, »dass wir noch einmal froh sein würden, dieses bemooste Kriegerdenkmal behalten zu dürfen …«
»Lass mal, Hans«, hatte Onkel Curt ihm entgegengehalten, »solange wir den alten Hindenburg haben, herrscht zumindest Ordnung, und der Hitler hat keine Chance …«
Aber bei den Reichstagswahlen im Juli waren Hitlers Nazis eindeutig Sieger geworden, zum Entsetzen unserer Eltern. Ein paar Tage lang hatten alle Erwachsenen davon geredet, dass nun dieser hergelaufene Halunke mit dem Chaplin-Bärtchen, der nicht mal richtig Deutsch könnte, vielleicht Reichskanzler werden würde.
Auf dem Dach unseres Gymnasiums hatten ein paar ältere Schüler in braunen Hemden, braunen Breeches-Hosen und Schaftstiefeln schon etwas voreilig eine Hakenkreuzfahne gehisst, die der Schuldiener auf Geheiß des Direktors wieder einholen musste. Karlchen Knoops, der zweimal sitzengeblieben und der Älteste in unserer Klasse war, hatte grinsend von einer »Nacht der langen Messer« gesprochen, die jetzt bald käme.
Aber dann war ein Herr v. Papen Reichskanzler geworden. Seine Regierung war, wie Onkel Curt zu meinem Vater gesagt hatte, »ein Schießbudenfiguren-Kabinett, aber immer noch viel besser als die Nazis«, die dann bei den Reichstagswahlen vom 6. November einen Rückschlag erlitten und mehr als zwei Millionen Wählerstimmen wieder verloren.
Nach einigen Wochen der Ungewissheit löste der Reichswehrgeneral v. Schleicher Herrn v. Papen als Kanzler ab, und als wir am Sonntag darauf wieder bei Eichelbaums waren und vom Büfett naschten, fragte Onkel Curt:
»Was meinst du, Hans? Ist die Gefahr jetzt vorüber?«
»Hoffen wir’s«, sagte mein Vater, aber es klang nicht sehr zuversichtlich.
Tante Lottchen, Agnes und meine Mutter trafen derweilen letzte generalstabsmäßige Vorbereitungen zum bevorstehenden Weihnachtsfest. In Eichelbaums großer Wohnung duftete es bereits nach Lebkuchen und Marzipan. Letzteres wurde von Agnes nach Tante Lottchens genauen Anweisungen und einem alten Königsberger Rezept mit sehr viel Rosenöl und in unglaublichen Mengen hergestellt. Tante Lottchen verschenkte es paketweise an alle guten Freunde zu Weihnachten. Nur Hirschfelds bekamen ihr Marzipan jeweils ein paar Tage früher, zu Chanukka, das eigentlich, wie Putti und ich wussten, kein hoher Feiertag war, aber sehr praktisch, weil wir in kurzem Abstand zweimal feiern und Geschenke entgegennehmen konnten, erst bei Hirschfelds und dann zu Hause.
Mit den hohen jüdischen Feiertagen kannten wir uns aus, behielten das aber für uns. Denn an solchen Tagen verschwanden Putti und ich unter dem Vorwand, am Bayerischen Platz fände ein wichtiges Murmel-Turnier statt, in entgegengesetzter Richtung um die Ecke. Unweit der neuen reformierten Synagoge in der Prinzregentenstraße stellten wir uns auf, bei schönem Wetter in etwas größerem Abstand, bei strömendem Regen mehr in der Nähe des Eingangs. Denn die entgegen den strengen religiösen Vorschriften mit Autos und Taxis zum Gottesdienst fahrenden Gemeindemitglieder wollten meist die letzten paar Schritte »anstandshalber« zu Fuß gehen. Wir öffneten ihnen den Wagenschlag, halfen beim Aussteigen, wünschten »guten Jontef (Feiertag)«, was ihr schlechtes Gewissen noch verstärkte, machten einen Diener und hielten die Hand auf.
Die reichlich fließenden Trinkgelder wurden ehrlich geteilt, und so hatten wir erfreulich hohe Nebeneinnahmen, bis uns eines Tages eine vorübergehende Portierfrau erkannte und sofort Tante Lottchen verständigte: »Ick jloobe, Frau Dokta, Ihr Kleener und sein Freund, die machen vorm Tempel den Schammes!«
Damit brach unser gutgehendes Geschäft zusammen. Die eilig entsandte Agnes führte uns ab. Meine Mutter lachte nur, aber Tante Lottchen, die äußerst Zarte, verabreichte Putti zum ersten und wohl auch letzten Mal eine Tracht Prügel, denn sie war über alle Maßen empört:
»Willst du unseren guten Ruf ruinieren? Was wird dein Vater sagen, wenn er hört, dass du seine Praxis zugrunde richtest!?«
Aber es waren andere, die wenige Wochen später das Zugrunderichten von Onkel Curts Praxis besorgten: Am 30. Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler. Die Wilmersdorfer Hitlerjugend, Karlchen Knoops vorneweg, veranstaltete einen Fackelzug und sang abwechselnd das Horst-Wessel-Lied und Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut …!
»Eine schlimme Sache, gewiss«, hatte Herr Goldstaub, ein gemeinsamer Schulfreund von Onkel Curt und meinem Vater, am folgenden Sonntag dazu gemeint, »aber das läuft sich tot! In ein paar Wochen haben die doch abgewirtschaftet …«
Herrn Goldstaub gehörte der große Atrium-Filmpalast Berliner Straße, Ecke Kaiserallee, und sein Geschäft ging glänzend. Die Leute wollten patriotische Ufa-Filme mit Otto Gebühr als Altem Fritz sehen, vor allem aber die Ufa-Wochenschau, deren Begeisterung für die »Machtergreifung« Hitlers und aller nationalen Kräfte keine Grenzen kannte.
Am Abend des 27. Februar brannte der Reichstag. Viele Leute, auch ein sozialdemokratischer Redakteur aus dem Nebenhaus und ein Bildhauer, den mein Vater kannte und der in der Liga für Menschenrechte aktiv war, wurden noch in der Nacht von SA-Leuten in »Schutzhaft« genommen, verprügelt und misshandelt. In der folgenden Woche hörte man von immer neuen Verhaftungen durch SA- und SS-Leute, die über Nacht zu »Hilfspolizisten« ernannt worden waren.
Auf den Straßen sah man täglich mehr Leute mit Nazi-Parteiabzeichen am Revers oder in braunen Uniformen mit Hakenkreuz-Armbinden und Schaftstiefeln, die sich gegenseitig mit ausgestrecktem Arm und »Heil Hitler« grüßten. Putti erzählte mir, er habe Herrn Strelow getroffen – in brauner Uniform!
Am Zeitungsstand Ecke Berliner Straße sahen wir, wie SA-Leute ganze Packen von Zeitungen »beschlagnahmten« und auf einen Lastwagen warfen.
»Ick muss doch dafier bezahlen!«, jammerte die Zeitungsfrau, aber sie fuhren bereits weiter zum nächsten Kiosk.
Am 5. März war schon wieder Reichstagswahl, die dritte in neun Monaten. Diesmal bekamen die Nazis und die mit ihnen verbündete Kampffront Schwarz-Weiß-Rot die absolute Mehrheit. Selbst Herr Goldstaub meinte jetzt, dass es mindestens ein Jahr dauern könnte, bis der Spuk vorüber wäre und wieder Ordnung herrschte. Die Villa von Tietz, so erzählte er, hätten Hitlerjungen mit Steinen bombardiert, ohne dass die Polizei eingeschritten wäre! Das Haus der Familie Tietz, deren Mitgliedern viele große Warenhäuser gehörten, war ein riesiger dunkelbrauner Palazzo in einem Park an der Kaiserallee. Als Putti und ich am nächsten Tag uns den Schaden ansehen wollten, waren schon alle Fenster wieder verglast und die Scherben beseitigt. In der Woche darauf flüsterten die Erwachsenen von furchtbaren Misshandlungen, denen die vielen Verhafteten ausgesetzt wären. Vor allem die Kommunisten würden von der SA gefoltert! Wir machten uns Sorgen um Herrn Beek, aber Agnes beruhigte uns: Sie wüsste von Ihi, dass er wohlauf wäre.
Als ich am 1. April, einem Sonnabend, morgens zur Schule ging, stand vor dem kleinen Zigarettenladen an der Ecke ein SA-Mann Posten. An der Schaufensterscheibe klebte ein großes gelbes Plakat: DEUTSCHE! WEHRT EUCH! Kauft nicht bei JUDEN!
Wehren?, staunte ich. Gegen die alte Frau Kohnke, die wegen ihres Hüftleidens am Stock ging und uns manchmal Zigarettenbilder schenkte? In ihrem Laden, neben der Muratti Ariston-Reklame, hing das Bild ihres 1916 vor Verdun gefallenen jüngsten Sohnes … Die Nazis waren doch so begeistert von Krieg, Heldentum und patriotischer Opferbereitschaft – warum taten sie der Frau Kohnke das an?
In der Schule hörte ich, dass der neue Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Goebbels, den heutigen 1. April zum Tag des allgemeinen Juden-Boykotts