Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket). Bernt Engelmann

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Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket) - Bernt Engelmann

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Vater und Onkel Curt am vergangenen Sonntag gesagt, dieser »üble Hetzer« wage es, sich als »Vertreter der Frontkämpfer-Generation« zu bezeichnen, und wäre dabei nie Soldat gewesen!

      In der zweiten Stunde kam Herr Reling, der Schuldiener, ohne anzuklopfen in die Klasse, rief »Heil Hitler« und gab grinsend bekannt, unser Direktor, Dr. Levysohn, ein einarmiger Kriegsinvalide, der unseren höchsten Respekt genoss, wäre »mit sofortiger Wirkung bis auf Weiteres beurlaubt«, ebenso der »Nichtarier« Dr. Bamberger und der »Marxist« Wisselmann, unser Zeichenlehrer.

      Dr. Bamberger, bei dem wir Deutschunterricht hatten und von dem wir gerade über die Tücken eines adversativ gebrauchten während belehrt worden waren, was uns schrecklich gelangweilt hatte, wurde blass. Wir waren mäuschenstill, als er dann seine Sachen packte und mit einem leisen »Lebt wohl, Jungen …« das Klassenzimmer verließ. Als ich mittags nach Hause kam, merkte ich sofort, dass noch mehr Schreckliches geschehen sein musste. Mein Vater war ernst und hatte Tränen in den Augen; auch meine Mutter hatte geweint.

      Onkel Curt, so erfuhr ich dann, war an diesem 1. April vor seinem Anwaltsbüro von SA-Leuten angehalten, beschimpft und geschlagen worden!

      Quer über den Preußenadler seines Notariatsschilds hatten sie einen gelben Streifen mit der Aufschrift JUDENSAU! geklebt, ihm selbst dann, als er versuchte, sich in seine Praxis zu retten, ein Pappschild um den Hals gehängt. Jude, der nicht gehorchen will! stand darauf, und damit wollten sie ihn die Linden entlang vor sich hertreiben! Nur durch das rasche und energische Eingreifen seiner Kollegen und Freunde Krauss und v. Godin war das verhindert worden.

      Rechtsanwalt Dr. Georg Krauss, ein großer, stattlicher Mann mit sogenannten »Schmissen« – Narben von studentischen Säbelmensuren im Gesicht –, hatte die SA-Leute angebrüllt: Ob sie verrückt geworden wären, ob sie nicht wüssten, wen sie vor sich hätten?! Sie hatten keine Widerrede mehr gewagt und waren abgezogen. Aber schon wenige Tage später erhielt Onkel Curt ein amtliches Schreiben: Als »Nichtarier hatte man ihm das Notariat und die Zulassung als Rechtsanwalt mit sofortiger Wirkung entzogen!

      Diese »Säuberung« des öffentlichen Dienstes und der freien Berufe betraf alle, die Juden waren oder, wie Onkel Curt und Tante Lottchen, von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammten, auch wenn sie christlich getauft oder Dissidenten waren. Ausnahmen gab es nur für Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, die – wenn sie keine Vorgesetzten von Ariern waren – vorläufig weiter ihrem Beruf nachgehen durften.

      »Dein Vater war doch Offizier«, sagte ich zu Putti.

      »Ja, aber nicht an der Front – er hat sich 1914 zwar freiwillig gemeldet, aber sie brauchten ihn als Volljuristen dann im Verwaltungsdienst …«

      Acht Wochen später reisten Curt, Lottchen und Putti Eichelbaum, der nun Richard hieß und einen eigenen Pass hatte, von Berlin ab. Am Bahnhof standen die Freunde und nahmen Abschied. Agnes weinte; es war Puttis zwölfter Geburtstag, und sie hatte ihm nicht mal einen Kuchen backen können! Die große Wohnung Badensche, Ecke Babelsberger Straße war schon vor zwei Tagen leergeräumt worden. Eichelbaums und sie hatten bis zu ihrer Abreise nebenan bei Hirschfelds Aufnahme gefunden. Gestern Abend waren dort plötzlich Männer von der Gestapo, der neuen Geheimen Staatspolizei, erschienen und hatten alles durchsucht, auch Eichelbaums Gepäck. Nur weil Onkel Curt Pässe, Visa und Fahrkarten für den nächsten Tag vorweisen konnte und weil Herr Hirschfeld und dessen Familie schwedische Staatsangehörige waren, hatte die Gestapo schließlich das Feld geräumt.

      »Es war furchtbar«, weinte die sonst so resolute Agnes, »am liebsten würde ich mit den Herrschaften mitfahren, aber der Herr Doktor hat gesagt, das geht leider nicht – morgen mache ich weg von Berlin – ich fahre wieder nach Hause, nach Schlesien …«

      Dann nahm sie ein zweites Mal Abschied von Putti.

      Rechtsanwalt Dr. Krauss, der Tante Lottchen in die Arme geschlossen hatte, sagte plötzlich laut: »Seid froh, dass ihr diesen Dreckstall verlassen könnt! Ich wollte, ich könnte es auch – aber ich komme euch bald besuchen!«

      Ein paar Leute drehten sich erschrocken um und gingen schnell weiter.

      »Hattet ihr Schwierigkeiten mit – mit den Sachen?«, erkundigte sich Herr Goldstaub besorgt.

      Tante Lottchen, sehr blass, die Tränen tapfer unterdrückend, verneinte stumm und deutete mit einer Kopfbewegung auf die weinende Agnes.

      Onkel Curt nahm Herrn Goldstaub beiseite und sagte leise: »Lass uns hier lieber nicht davon reden – aber es ging besser, als man hoffen konnte …«

      Eichelbaums ganze Wohnungseinrichtung samt dem vielen Tafelsilber und anderen Wertsachen, die mitzunehmen Juden nicht erlaubt war, rollte bereits in einem plombierten Waggon gen Süden. Geheime Staatspolizei und Zoll hatten nichts zu beanstanden gehabt. Die Kontrolle war im Lager der Möbelspedition vorgenommen worden. Dort hatte der bei den Behörden als besonders vertrauenswürdig empfohlene nunmehrige SA-Mann Beek – die Schalmeienkapelle war von der SA geschlossen übernommen worden – Stück für Stück mit den Listen verglichen und alles in Ordnung befunden, sodann als erfahrene Fachkraft mit allen erforderlichen Dokumenten, Stempeln und Plomben versehen lassen und auf den Weg gebracht. Von der Zürcher Filiale war der Empfang der Sendung bereits bestätigt worden. Herr Beek selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, Agnes, die ihm bei der umständlichen Kontrolle sehr behilflich gewesen war, sofort zu verständigen, dass alles »richtig angekommen« wäre.

      »Alles einsteigen!«

      Mein Vater umarmte rasch noch einmal seinen alten Freund. »Du hast doch Rückfahrkarten genommen, Curt?«, hörte ich ihn fragen.

      »Na, selbstverständlich, Hans! Was denn sonst?«

      Als sich der D-Zug nach Stuttgart mit Kurswagen nach Zürich in Bewegung setzte, schrien alle durcheinander, winkten mit den Taschentüchern, drückten rasch noch einmal die aus den Fenstern hingestreckten Hände.

      »Auf Wiedersehen«, rief als letzter Putti. Er war schon im Stimmbruch.

      Juli 1933. 26.789 Personen im Deutschen Reich ohne Urteil in KZ-Haft. Viererpakt London-Paris-Rom-Berlin bringt Hitler internationale Anerkennung.

      November 1933. 92,2% der deutschen Wähler stimmen für Hitlers Außenpolitik.

      Januar 1934. Der NS-Einheitsstaat ist perfekt.

      Februar 1934. Aufstand in Wien. Der katholisch-konservative Diktator Dollfuß setzt Militär gegen die SPÖ ein.

      März 1934. In Deutschland beginnt der Autobahnbau, im April wird der monatliche »Eintopfsonntag« eingeführt, die Freizügigkeit bei der Wahl des Arbeitsplatzes wird abgeschafft.

      25. April 1934. Gescheiterter Nazi-Aufstand in Österreich, bei dem Kanzler Dollfuß ermordet wird. Spannung zwischen Hitler und Mussolini auf dem Höhepunkt. Italienische Panzer stehen einmarschbereit am Brenner.

      30. Juni / 1. Juli 1934. Sog. »Röhmputsch«, bei dem Hitler rund 1.000 seiner ältesten Kampfgefährten (und Mitwisser) umbringen lässt.

      2. August 1934. Hindenburg im Alter von 86 Jahren gestorben. Hitler wird sein Nachfolger als Staatsoberhaupt (»Führer und Reichskanzler«).

      Januar 1935. Volksabstimmung im Saargebiet: 90,5% für Anschluss an Deutschland. Die Anzahl der Arbeitslosen im Reich beträgt noch 2,9 Millionen.

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