Zwischen den Rassen. Heinrich Mann

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Zwischen den Rassen - Heinrich Mann

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Dialekt sprachen, Vorurteile hatten, an Erde und Metall klebten: solche Menschen hatten wohl nie in solchen Versen gefühlt. Es mussten andere leben, lustigere, gütigere und reinere, die man lieben konnte. Sie waren auf anderen Sternen: gewiss, es gab überirdische Lebensstufen, und Gott — o, er war also da! — erlaubte uns, von Stern zu Stern uns zu veredeln! Ihrer hässlichen Hülle ledig, schwebte Lola in Gemeinschaft einer seelenhaften Menschheit durch die Unendlichkeiten der Poesie; und kehrte sie nach dem Gewitter heim, war sie trunken von der wetterleuchtenden Weite, dem Jubel der befreiten Natur, von Menschengüte, Tugend und Allliebe.

      Dann sagte Erneste:

      „Nein aber, du triefst; du verdirbst noch alle deine Kleider!“

      Und Lola musste herabsteigen und sich mit den Wesen behelfen, zu denen eine mürrische Wirklichkeit sie gesellt hatte.

      Erneste war vor dem Gewitter ins Zimmer geflüchtet und hatte an ihrem Buch keine Freude gefunden, weil sie immer denken musste, dass sie nun doch allzu wenig Gutes habe von ihrem Liebling, von dieser Lola, die sie, ganz insgeheim, ihr Kind nannte. Dies Berghotel war ein teurer Aufenthalt, und wenn er für Lola ohne Schwierigkeit bezahlt ward, Erneste fiel’s nicht leicht. Sie wohnte sonst den Sommer in einem Dorf nahe ihrer Stadt, mit andern Lehrerinnen und mit Lola. Um Lola zu erfreuen, hatte sie dies Jahr die Reise gemacht; und auch, weil das Kind groß ward und es nicht mehr lange dauern konnte, bis man es ihr wegnahm. Vorher noch eine Zeitlang es ganz für sich haben, noch einmal so vertraut mit ihm leben wie einst, als es klein war: danach hatte Erneste sich gesehnt. Nun aber saß sie meist allein, immer in der Stube, bei dem ewigen Regen hier im Gebirge, und Lola hatte noch nie daran gedacht, ihr Gesellschaft zu leisten. „So junge Menschen sind zu sehr mit sich beschäftigt und sehen in andere nicht hinein. Dass sie wegläuft, ist kein Mangel an Zartgefühl, bewahre. Warum kann ich ihr nicht sagen, wie gern ich mit ihr beisammen wäre? Es ist meine Schuld.“ Dabei errötete Erneste, sogar hier im verschwiegenen Zimmer.

      Wieviel verschämtes Leid hatte ihr die Liebe zu diesem Kinde bereitet! Bis in das erste Jahr zurück wusste sie noch alle Strafen, die sie Lola hatte erteilen müssen: so schwer waren sie ihr geworden. Schmerzensworte, zornige Ausrufe der Kleinen, die Lola selbst längst vergessen hatte, fielen Erneste oft wieder ein, und noch immer erschrak sie darüber. War sie nicht zart genug gewesen mit dem einsamen Kinde? Wohl hatte sie es über die empfangenen Strafen zu trösten gesucht: indem sie ihm das Fleisch, das es nicht gern aß, wie einen Kuchen herrichtete; oder dadurch, dass der Spitz Ami, der Lola angeknurrt hatte, vor ihr schön machen musste. Ami war nun tot: Alles war verändert. Nie mehr saß Lola wie damals, als sie noch nicht Deutsch konnte, zu Ernestes Füßen und gab ihr die wenigen Worte, die sie kannte, als Schmeichelnamen. Nie mehr schlüpfte sie am Morgen zu Erneste ins Bett und weckte sie mit einem Gedicht, dass die Anrede „Herzmama“ enthielt! „Wenn die Kinder klein sind, brauchen sie uns.“ War das wirklich alles in der Liebe der Kinder? Nein, nein! Und doch war Erneste von einer verdrießlichen Ahnung erfasst worden, als eines Tages Lola nicht mehr unter ihrem waagerecht ausgestreckten Arm stehen konnte.

      Ganz leicht machte nun die Herangewachsene sich los: so leicht, als habe sie sich innerlich nie bei Erneste gefühlt! Zwar durfte man nicht ungerecht werden: sie hatte das Leben vor sich und wandte sich ihm zu; und dann war wirklich viel Fremdes in ihr, das man nicht begriff, und das einem Sorge machen konnte. Schon immer war Erneste ängstlich berührt, beinahe eingeschüchtert worden durch die Anzeichen der fremden Herkunft bei Lola. Die auffallenden Äußerungen des Kindes zuerst, seine eigenartigen Vergehen, und dass es eigentlich niemals Kameraden gehabt hatte. Dann seine etwas frühen kleinen Verliebtheiten; nun, sie waren schwärmerisch und rein und mochten hingehen. Endlich aber diese schlimme Lust nach dem Theater: o, etwas ganz Schlimmes war da in Lola entstanden, aus Keimen, die Erneste trotz aller Pflege dieser Seele nicht hatte ersticken können. Wie unheimlich ihr’s damals zu Mut gewesen war! — und wie kummerschwer sie nun die Entfremdung zwischen ihnen beiden wachsen und die Trennung sich nähern sah!

      „Warum ist sie so? Was hat sie mir vorzuwerfen? Denkt sie doch noch ans Theater?“ Auch andere Mädchen in Lolas Alter und gerade die Besseren, wusste Erneste, hatten ihre scheuen und eigenwilligen Zeiten, standen immer im Begriff, in Ohnmacht zu fallen — dies geschah Lola nie —, waren schwach, erregbar und tief. Lola aber war gar zu unergründlich, und in ihrer Verschlossenheit spürte man etwas Bitteres, Feindseliges. Hatte sie zu klagen: warum eröffnete sie sich nicht ihrer alten Freundin? „Früh genug bleiben wir allein im Leben. Noch hat sie eine, der sie alles ist. Aber die Jugend trumpft auf ihre Selbständigkeit. Später wird sie an mich denken.“ Gereizt vom einsamen Grübeln, war Erneste nahe daran, Lola ein recht schlimmes Später zu wünschen, damit sie an sie denke. Dann wurden Lolas Schritte vernehmlich, und noch bevor sie in der Tür stand, hatte Erneste ihr alles abgebeten.

      „Bist du nun genug umhergelaufen?“ fragte sie munter. „Setzt du dich nun gemütlich zur alten Erneste?“

      Dabei stellte sie sich ganz mit ihrer Häkelei beschäftigt und sprach nur in Pausen.

      „Weißt du wohl, woran ich eben erinnert wurde? An das seidene Kleidchen, in dem du damals aus Amerika kamst. Dies da hat eine ähnliche Farbe, und die Ärmel sind auch wieder so. Was alles zwischen den beiden Kleidern liegt, nicht?“

      Lola sah mit einer Falte zwischen den Augen vom Buch auf, wartete, was sie solle, und las weiter.

      „Du kamst zu einer Zeit, als ich sehr einsam und traurig war,“ sagte Erneste nach einer Weile.

      „Beliebt?“ fragte Lola; und Erneste sprach, trotz ihrer Scham, den Satz noch einmal.

      „So?“ machte Lola, ungeduldig, weil sie einen Augenblick von sich selbst fort und über jemand anderen nachdenken musste.

      „Ach ja, du warst das erste Jahr immer in Trauer.“

      Sie sah noch in die Luft: ob sie weiterfragen müsse. Wozu; und sie kehrte zum Buch zurück.

      „Wenn man so allein geblieben ist, wie ich damals, dann ist das Herz vorbereitet. Drum gewann ich dich, die du auch allein warst, gleich sehr lieb,“ sagte Erneste einfach. Nach einer Pause, da Lola sich nicht regte:

      „Nun, ganz vergessen wirst du die alte Erneste wohl niemals!“

      Ein stockendes Selbstgespräch.

      „Solltest du einst ein Kind zu erziehen haben: Ja, dann denkst du gewiss an mich . . . Du musst es selbst erziehen . . . Bei Rousseau — hier den Emile wollen wir zusammen lesen — steht folgendes: ‚Wenn ein Vater Kinder zeugt und ernährt, leistet er damit erst ein Drittel seiner Aufgabe . . . Wer die Vaterpflichten nicht erfüllen kann, hat kein Recht, Vater zu werden. Weder Armut noch Arbeiten noch menschliche Rücksichten entheben ihn der Pflicht, seine Kinder selbst zu ernähren und zu erziehen. Leser, ihr könnt mir glauben, jedem, der ein Herz hat und so heilige Pflichten versäumt, sage ich voraus, dass er über seinen Fehler lange Zeit bittere Tränen vergießen und sich nie trösten wird.‘“

      Erneste sah vom Buch auf: Lola saß blass da und sah sie durchdringend an. Plötzlich, klar, rasch und eintönig:

      „Meinst du etwa meinen Vater?“

      Erneste öffnete erschreckt den Mund und konnte nicht sprechen. Sie wehrte mit der Hand ab.

      „Meinst du etwa meinen Vater?“ wiederholte Lola. Rosig bis über die Stirn brachte Erneste hervor:

      „Um Gottes willen, Kind, was fällt dir ein! Ich habe von uns gesprochen, von dir und mir. Ich halte dich in meinen Gedanken ja immer für mein eigen!“

      Lola prüfte sie noch immer: nein, Erneste hatte wohl nicht an Pai gedacht.

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