Ausgesoffen. Jörg Böckem

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Ausgesoffen - Jörg Böckem

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neun oder halb zehn schlief. Frühes Aufstehen hasste ich seit meiner Schulzeit. Zum anderen hatte der Umzug meine Welt wunderbar erweitert. Nach kurzer Zeit wusste ich, in welchen Lokalitäten die sogenannte Szene verkehrte. Ich war neugierig und kontaktfreudig, kam schnell mit Menschen ins Gespräch. Was in Köln zugegebenermaßen nicht besonders schwierig ist – wer hier keine Kontakte knüpft, leidet wahrscheinlich an einer schweren Sozialstörung. Beinahe täglich traf ich interessante und aufregende Menschen, den Schauspieler Jo Bolling, den ich aus der »Lindenstraße« kannte, lernte ich in einem Café kennen, den Sänger und Ex­tremsportler Joey Kelly oder die Entertainerin Hella von Sinnen an der Bar eines Clubs.

      Einer meiner engsten Freunde war Tom Gerhardt, ein Lokaljournalist, der Philosophie und Germanistik studiert hatte und von einer Karriere als Comedian träumte. Als ich ihn kennenlernte, spielte er vor dreißig Besuchern, einige Jahre später war er der Star einer eigenen Comedy-Serie im Privatfernsehen. In Köln öffnete sich eine Tür in eine neue, schillernde Welt. Eine, die schier grenzenlose Aufregung und Spaß verhieß, in der alles möglich zu sein schien. In den ersten Wochen und Monaten stand ich noch staunend am Rand, dann tauchte ich immer tiefer in diese Welt ein, kopfüber und mit leuchtenden Augen.

      Meine Begeisterung für den Sport hatte ich mir bewahrt. Ich spielte regelmäßig Handball in einer Journalisten-Mannschaft, und am Wochenende traf ich mich mit Carlo oder Dietmar Mögenburg zu einem Tennis-Match, oder wir spielten Basketball mit Sportstudenten und dem späteren Bundestrainer Dirk Bauermann. Danach ließen wir im Wellnessbereich des Interconti die Woche ausklingen und läuteten gleichzeitig das Partywochenende ein.

      Das Hotel lag nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt, der Wellnessbereich inklusive Sauna war im obersten Stockwerk untergebracht und, was vielen Kölnern nicht bekannt war, öffentlich zugänglich. Ende der Achtziger hatte, neben zahlreichen Sportlern, die Medienszene die Sauna für sich entdeckt. Ob Verleger, Journalist, Filmemacher oder Sportmanager, hier traf man die interessantesten Menschen. Zusätzlich zur Sauna, den Ruheräumen und der Bar gab es einen Billardtisch, man konnte Backgammon spielen oder sich massieren lassen. Wir spielten um Geld, das erhöhte die Spannung. Ein paradiesischer Ort, in dem Carlo, Dietmar und ich viele Stunden verbrachten. Mein Bruder feierte dort sogar seinen dreißigsten Geburtstag.

      Die Hotelsauna fungierte auch als eine Art kollektives Außenbüro, hier wurden Projekte entwickelt und Verträge ausgehandelt, die jeweiligen Mitarbeiter riefen bei wichtigen Belangen an der Bar der Sauna an. Bald hinterließ auch ich die Telefonnummer der Bar des Wellnessbereichs im Büro und bei meinen Geschäftsfreunden. An den Wochenenden war die Interconti-Sauna das Basislager, von dem aus wir in die Restaurants, die Clubs und Diskotheken ausschwärmten.

      Mit Dieter, dem Schauspieler, war ich auf der Toilette des Palm Beach ins Gespräch gekommen, einer Diskothek, in der sich allabendlich einige Hundert Jahre Knast versammelten. Uns verband neben der starken Affinität zum Sport vor allem unser Lebensstil – also die Affinität zu hochprozentigem Alkohol, schönen, in der Regel jüngeren Frauen und rauschhaften Nächten. »Es krachen lassen«, wie Dieter unser nächtliches Unterhaltungsprogramm beschrieb, das in der Regel mit einem doppelten Wodka-Tonic am Tresen des Nijinsky begann und, wenn die Diskotheken schlossen, in der nahegelegenen Currywurstbude und schließlich im Klein Köln endete, einer berüchtigten Milieu-Kneipe, angefüllt mit Boxern, Zuhältern und Nachtgespenstern aller Art. Dieter hatte sich schnell angewöhnt, mich mit »Thränhardt, du Tier!« oder »Thränhardt, du Verbrecher!« willkommen zu heißen, natürlich dröhnend laut. Zur Begrüßung klatschten wir uns ab, klopften uns mit großer Geste gegenseitig auf die Schultern und umarmten uns. Mir gefielen diese Rituale, auch wenn diese Körperlichkeit unter Männern neu für mich war.

      Ich war fasziniert von dem Biotop, in dem ich mich bewegte, umgeben von erfolgreichen Schauspielern und Musikern, von Journalisten und Schriftstellern, Plattenproduzenten und Sportlern, von Intellektuellen und Pseudointellektuellen, Unternehmern und Ganoven. In unserem Kreis gab es einen Schriftsteller, der Krimis schrieb, und den Chefredakteur einer Tageszeitung. Oder Bentley-Boris, der ein großes Vermögen verwaltete, besagte Autos sammelte und gerne und viel trank. Ein sehr zurückhaltender, liebenswürdiger Mann, immer geschmackvoll gekleidet, der meist abseits stand, das Geschehen aufmerksam beobachtete und treffsicher kommentierte. Frauen gegenüber war er sehr zuvorkommend, ein wirklicher Kavalier. Im Suff verlor er allerdings schon mal den Überblick. Einmal brachte er es fertig, im Vollrausch einen seiner Bentleys zu verlegen: An einem Wochenende hatte er sich in Monte Carlo so besoffen, dass er vergaß, dass er mit seinem Wagen dorthin gefahren war, den Bentley in einer Tiefgarage stehen ließ und nach Köln zurückflog. Dort suchte er tagelang seinen Wagen und meldete ihn schließlich als gestohlen. Seinen Irrtum bemerkte er erst Wochen später, als er eine saftige Rechnung des Tiefgaragenbetreibers aus Monte Carlo bekam.

      Da wir für Stimmung und Umsatz sorgten, waren wir in den Clubs und Diskotheken hofierte Stammgäste. Nie musste ich in einer Schlange stehen, die Türsteher begrüßten uns mit Handschlag und lotsten uns am wartenden Fußvolk vorbei. Die Getränke gingen sogar hin und wieder aufs Haus. Das Koks, das ich zunächst nur sporadisch an den Wochenenden nahm, leider nicht. Kokain war in den Clubs und Diskotheken, in denen ich die Nächte verbrachte, allgegenwärtig. Im Nijinsky gab es eine Art lebenden Kokskiosk, Stefan, der Dealer, eine Institution im Kölner Nachtleben. Graumeliert und mit adrettem Sakko stand er Abend für Abend am Tresen, immer an derselben Stelle. Er sah aus wie ein Versicherungsvertreter oder Geschäftsmann. Seine Geschäfte tätigte er zu meiner Überraschung wie selbstverständlich am Tresen. Nur Anfänger, lernte ich bald, wickelten ihre Drogenkäufe in dunklen Ecken vor der Tür der Diskothek ab.

      Im Alten Wartesaal trank ich mit Tom, dem zukünftigen Fernsehkomiker, Joey Kelly und einem erfolgreichen Gastronom Whisky an der Bar, wir stellten den Frauen nach, und der eine oder andere verschwand zwischendurch auf ein Näschen Koks auf die Toilette. Joey, der Ausdauersportler, nahm keine Drogen, hielt sich auch mit Alkohol eher zurück und verschwand in der Regel nicht weit nach Mitternacht. Wenn die Diskothek in den frühen Morgenstunden schloss, feierten wir anderen in der nahegelegenen Wohnung des Gastronomen weiter, lümmelten auf dem Sofa oder im Pool und redeten uns die Köpfe heiß. Wenn ich nach Hause ging, stach die Morgensonne in meine Augen. Was für ein Leben! Die anderen, die Langweiler, gingen zur Arbeit. Ich, die extrem coole Sau, kam nach Hause, aufgedreht und beseelt.

      So ein Leben hatte ich mir immer gewünscht. »Lieber den Jahren mehr Leben geben als dem Leben mehr Jahre«, wusste schon Curd Jürgens. So sah ich das auch – ich wollte so viel Aufregung, so viel Genuss und Stimulation in die Tage und Nächte pressen wie eben möglich. Grenzen überschreiten, in jeder Hinsicht, umgeben von schillernden, aufregenden Menschen. Ich war im Epizentrum des prallen Lebens angekommen, es waren meine »Stillen Tage in Clichy«.

      In dem Film »From Dusk Till Dawn« gibt es eine Szene, in der die beiden Hauptdarsteller eine Bar betreten, das »Titty Twister«. Dort tanzen halbnackte Frauen lasziv auf den Tischen, und verwegene Kerle in Lederjacken schütten grölend den Alkohol in sich hinein oder lecken ihn von den Frauenbäuchen. »Das könnte meine Stammkneipe werden«, sagt eine der beiden Hauptfiguren bei diesem Anblick. Als ich den Film sah, verstand ich genau, was er meinte. Jetzt fühlte es sich an, als lebte ich im »Titty Twister«. Zur Ruhe kam ich kaum, wieso auch?

      In meinem Leben spielten Sex und Erotik eine große Rolle. Genau genommen war ich ja sexuell eher ein Spätentwickler, mit Anfang dreißig hatte ich einiges nachzuholen. Obwohl ich mich meist in einer festen Beziehung befand, hatte ich zusätzlich regelmäßig Affären und One-Night-Stands. Ich war Filmemacher mit illustrem Freundeskreis und einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein, bei den Frauen kam ich gut an.

      Wie ein Spätpubertierender führte ich eine gedankliche Strichliste mit meinen Eroberungen, war stolz auf jede neue Kerbe in meinem imaginären Colt. An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal mit zwei verschiedenen Frauen hintereinander Sex hatte, war die Kerbe besonders tief. Ich träumte von einer perfekten Woche – das bedeutete, an sieben aufeinanderfolgenden Tagen Sex mit sieben verschiedenen Frauen zu haben. An manchen Wochen kam ich

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