Ausgesoffen. Jörg Böckem
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Am Ende solcher Partys waren meine Sinne häufig vernebelt, nicht nur vom Alkohol. Einmal fiel ich auf dem Nachhauseweg in einen Jägerzaun, eine sehr schmerzhafte Angelegenheit. Aber das war eher die Ausnahme. Der Alkohol spielte in diesen Jahren keine große Rolle in meinem Leben. Er schmeckte mir einfach nicht, außerdem bot mein Leben auch so mehr als genug aufregende und rauschhafte Momente. Ich trank nur, wenn es galt, vor einer Verabredung die Anspannung zu lösen und meine Scheu und die Angst vor einer Abfuhr einzudämmen. Selten waren es mehr als zwei oder drei Bier oder ein Whisky-Cola. Bis Brigitte mich verließ.
Brigitte war meine erste große Liebe. Sie saß im Französischkurs neben mir, siebzehn Jahre alt, lange, dunkelbraune Haare, große, dunkle Augen und eine aufregend frauliche Figur. Aber das war es nicht, was mich anzog. Zumindest war es nicht das Einzige: Brigitte war neugierig, klug, leidenschaftlich und voller Energie. Sie wollte die Welt verändern oder zumindest den Teil der Welt, in dem sie lebte. Sie war Klassensprecherin und Schulsprecherin, ich ließ mich zu ihrem Stellvertreter wählen. Ich wollte in ihrer Nähe sein. Und sie beeindrucken: Da ich eine Klasse wiederholt hatte, war ich der Älteste in unserem Jahrgang und somit einer der Ersten, die ein Auto besaßen. Einen VW Käfer, den ich in mühsamer Handarbeit schwarz-gelb lackiert hatte. Ich genoss es, morgens mit quietschenden Reifen auf dem Lehrerparkplatz vorzufahren, bestaunt von den jüngeren Mitschülern. In der zersiedelten Eifel mit ihren vielen kleinen Ortschaften, endlosen, verschlungenen Landstraßen und schlechten Bus- und Zugverbindungen war ein Auto ein Fanal des Erwachsenseins und ein Ticket in die Freiheit.
Dank einer Tankkarte meines Vaters konnte ich im rund vierzig Kilometer entfernten Eschweiler bargeldlos tanken. Irgendwann nahm ich meinen Mut zusammen und fragte Brigitte wie beiläufig, ob sie mich nach der Schule zur Tankstelle begleiten wolle. Als sie ja sagte, konnte ich mein Glück kaum fassen. In den Wochen, die folgten, wurde daraus eine Art Ritual. Zusammen fuhren wir nach der Schule tanken, anschließend aßen wir in einem kleinen Restaurant, wer gerade mehr Geld in der Tasche hatte, zahlte. Wir redeten, Stunde um Stunde. Über Bücher, den Sinn des Lebens, über unsere Sehnsüchte, Pläne und Überzeugungen. Eine Nähe und Vertrautheit entstand, wie ich sie noch nie mit einer Frau erlebt hatte. Ich fieberte den Stunden mit ihr entgegen. Im Restaurant spielten sie immer die gleichen Lieder, darunter »Kung Fu Fighting« von Carl Douglas, die Titelmelodie der TV-Serie »Kung Fu« mit David Carradine. Es wurde unser Lied, dass es außer uns niemand für sonderlich romantisch hielt, störte uns nicht weiter.
Irgendwann sprachen wir auch über Sex. »Der erste Mann, mit dem ich schlafe, sollte Erfahrung haben«, sagte sie. Es sei hilfreich, wenn wenigstens einer von beiden wisse, was er tue. In diesem Moment stieg die Zahl meiner bisherigen Sexualpartnerinnen sprunghaft. Unmöglich, ihr zu sagen, dass ich trotz meiner neunzehn Jahre und bei meinem großspurigen Auftreten noch nie mit einem Mädchen geschlafen hatte! Ich würde mir alle Chancen bei ihr ruinieren. Also log ich. Mit vier oder fünf Frauen sei ich schon im Bett gewesen, sagte ich nebulös. So, als sei die genaue Zahl nicht wichtig. Oder als könne ich die Frauen schon gar nicht mehr zählen, was wohl nicht sonderlich glaubwürdig klang. Ich gab sogar Details aus meinem reichhaltigen, in der Realität allerdings bei Henry Miller, Harold Robbins und in Sexheftchen wie Praline angelesenen Erfahrungsschatz zum Besten. Keine Ahnung, ob ich sie überzeugen konnte.
Das größte Problem, noch größer als meine mangelnde sexuelle Erfahrung, war Brigittes Freund. Er war Holländer, sie sahen sich selten. Waren sie zusammen, litt ich Höllenqualen. Eines Abends hielt ich es nicht länger aus. Es war Samstagabend, am Freitag hatten Brigitte und ich stundenlang telefoniert. Ich wusste, sie würde die Nacht mit ihrem Holländerfreund in einer Diskothek in Roetgen verbringen. Ich fuhr hin. Es gelang mir, Brigitte aus der Disco zu lotsen. Hinter einer Hecke verborgen fielen wir uns in die Arme und küssten uns, zum ersten Mal. Unaufhaltsam, so schien es mir, waren wir aufeinander zugetrieben, wir gehörten zusammen, daran konnte es keinen Zweifel mehr geben. Auf der anderen Seite der Hecke rief der Holländer ihren Namen, seine Stimme klang dumpf, wie aus einer anderen Welt. Seit diesem Abend waren wir ein Paar.
Brigitte stammte aus einer wohlhabenden Familie, sie lebte mit ihrem jüngeren Bruder bei ihrer Mutter in einer weitläufigen, stilvoll eingerichteten Villa. Brigittes Vater war ein erfolgreicher Ingenieur gewesen und hatte zu den Honoratioren der Region gehört. Er starb, als sie acht Jahre alt war. An einem Herzinfarkt, im Urlaub mit seiner Geliebten. Diese Tragödie und der daraus resultierende Skandal hatten Brigittes Mutter geprägt, vor allem ihre Einstellung zu Männern. Mich mochte sie nicht. Zugegeben, ich machte es ihr nicht allzu schwer, mich nicht zu mögen. Ich hatte es mir zum Beispiel zur Angewohnheit gemacht, mit meinem Käfer mit hoher Geschwindigkeit in die Einfahrt zu rauschen und dann eine Vollbremsung hinzulegen, die den Kies spritzen ließ. »Da kommt Bernd mit seinem schwarz-gelben Schwanz«, lautete ihr abfälliger Kommentar. Nein, ich war definitiv nicht der Richtige für ihre Tochter. Zu meinem Glück sah Brigitte das anders. Möglich, dass die Ablehnung ihrer Mutter meine Attraktivität in ihren Augen eher noch steigerte.
Unser erster Sex war schöner, als ich es mir in all meinen hochfliegenden Träumen ausgemalt hatte. Nach Wochen, in denen wir jede freie Minute miteinander verbracht hatten, stundenlang geredet, uns erforscht, angefasst und geküsst hatten, fühlte es sich für uns beide ganz natürlich an, den nächsten Schritt zu gehen, trotz aller Aufregung beinahe selbstverständlich. Nach der Schule fuhren wir zu ihr, um diese Uhrzeit, hofften wir, war niemand im Haus. Das Bett in ihrem Jugendzimmer war schmal, aber das störte uns nicht. Wir zogen uns aus, fassten uns an. Mein Herz raste. Meine Großmäuligkeit, all meine angelesene Erfahrung aus Fachmagazinen wie Quick oder Wochenend löste sich auf wie eine Sandburg im Sturm. Das Gefühl der Verschmelzung, ihr so nah zu sein, war überwältigend. Irgendwann hörten wir Schritte auf dem Flur vor ihrer Zimmertür. Aber wir waren in unserer eigenen Welt, zu der niemand Zutritt hatte. Abends entsorgten wir das Laken mit dem verräterischen Blutfleck. Irgendwann, Wochen oder Monate später, fragte Brigitte mich mit einem Lächeln, ob ich doch nicht so viel Erfahrung gehabt hätte, wie ich behauptet hatte.
Der Sex brachte uns noch enger zusammen. Wir richteten uns gemeinsame Zimmer ein, in der größtmöglichen Entfernung zu unseren Familien. Im Keller ihres Elternhauses und auf dem Dachboden des maroden, unter Denkmalschutz stehenden Fachwerkhauses auf dem Grundstück meiner Eltern. Rückzugsräume, in denen wir als Paar lebten und die nur uns gehörten.
Kurz vor dem Abitur wurde Brigitte schwanger. Unmöglich, unseren Eltern davon zu erzählen. Diese Schwangerschaft war unser Problem, und wir würden eine Lösung finden. Ein Kind, das wussten wir, würde unsere Zukunftsplanung auf den Kopf stellen. Außerdem waren wir zu jung, sie gerade achtzehn, ich neunzehn, der Verantwortung für ein Kind fühlten wir uns nicht gewachsen. Ich suchte Rat bei der Telefonseelsorge. Und geriet an einen militanten Christen, der uns mit ewiger Verdammnis drohte, sollten wir das Ungeborene abtreiben lassen. Hilfe fanden wir dann bei Pro Familia. Dort gaben sie uns die Adresse eines Arztes in Maastricht. In den Niederlanden war Abtreibung legal, Mitte der Siebziger im Grenzgebiet der einfachste und oft der einzige Weg. Während des Eingriffes saß ich neben ihr, hielt ihre Hand und fühlte mich ihr auch im Schmerz eng verbunden. Kinder, da war ich mir sicher, würden wir später noch haben. Wir würden unser Leben miteinander verbringen, daran gab es für mich keinen Zweifel.
Nach dem Abitur beaufsichtigte Brigitte in den Sommerferien ehrenamtlich vernachlässigte Kinder aus sozial schwachen Berliner Familien in Ferienlagern des Wohlfahrtsverbandes »Student für Europa – Student für Berlin«. Ich begleitete sie, wann immer ich die Gelegenheit dazu fand. Ich liebte Brigitte. So, wie man vielleicht nur das erste Mal liebt, rauschhaft, kompromisslos, mit unerschütterlicher Gewissheit. Jemals eine andere Frau zu lieben oder auch nur zu begehren schien mir unvorstellbar.
Das Ende kam schleichend. Ich hatte die Anzeichen nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. »Ich habe mich in einen anderen verliebt«, sagte sie. Ich war fassungslos, fühlte mich taub und leer. Meine Welt zerbrach. Sie war meine große Liebe, seit vier Jahren waren wir ein Paar. Unsere Beziehung, unsere Liebe erschien mir wie eine Art Naturgesetz. Wie konnte sie mich verlassen?