Ausgesoffen. Jörg Böckem

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Ausgesoffen - Jörg Böckem

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sind; gerade für diejenigen, die ihren Weg in die Gesundung gerade erst begonnen haben.

      Aber die Gruppentermine sind auch ein wichtiger Teil meiner persönlichen Tagesstruktur, meiner Identität. Ein Gespräch mit einem Freund hat mir dann geholfen, meine Frustration zu überwinden – wie bei einer Suchterkrankung ist in einer Pandemie Selbstmitleid ein schlechter Ratgeber. Ich habe mich bemüht, mit Phantasie und Kreativität andere Angebote und Möglichkeiten zu schaffen. Je nach Pandemie-Lage digitale Treffen und Telefonate, Einzel-Spaziergänge oder Treffen in kleinen Gruppen, natürlich mit Abstand, und einiges mehr. Ein Kompromiss blieb es dennoch, nichts kann das Gruppentreffen mit seinen Ritualen, der leibhaftigen Begegnung mit vertrauten Menschen, ersetzen.

      In dieser Zeit ist mir die vielleicht größte Veränderung in meinem Leben bewusst geworden: Meine Perspektive hat sich verlagert, vom Hilfsbedürftigen zum Helfenden. Sicher, auch nach 19 Jahren suchtfreiem Leben muss ich immer noch achtsam sein, mir selbst auf die Finger schauen und beispielsweise meine Belohnungssysteme im Auge behalten. Ich darf die Selbstfürsorge nicht vergessen, muss darauf achten – oder immer wieder neu lernen – »Nein« zu sagen, ich neige immer noch dazu, mir zu viel zuzumuten.

      Und wenn ich ganz ehrlich bin, passiert es auch immer noch hin und wieder, dass ich, wenn ich Filme sehe, in denen getrunken und ausgelassen gefeiert wird, für einen ganz kurzen Moment melancholisch werde und denke, wie schön war das doch damals! Eine kurze und flüchtige sentimentale Anwandlung, wie die Erinnerung an eine verflossene Liebe, die nach wenigen Sekunden glücklicherweise vorüber ist. Auch wenn ich nicht jeden Tag mit seligem Grinsen durch die Welt laufe, so weiß ich doch, dass mein Leben heute um so vieles besser und reicher ist als in der Zeit der Besäufnisse und Partys, egal wie wild sie waren.

      Heute steht für mich im Vordergrund, anderen Betroffenen Hilfe und Unterstützung anzubieten – was wiederum auch für mich stabilisierend und Sinn stiftend wirkt. Die Menschen in der Gruppe und ihre Zusammensetzung verändern sich, ich verändere mich, ich lerne in der Gruppe ständig dazu und muss mich immer wieder hinterfragen. Langweilig wird es nie. Im Gegenteil, oft fahre ich nach einem Gruppentreffen beseelt nach Hause. Ich habe meinen Platz gefunden, denke ich. Ich weiß, wer ich bin.

      Gier

      Juni 2001: Ich sehe auf meine Uhr. Es ist vier Uhr am Morgen, keine Chance, Schlaf zu finden. Der Entzug ist in meinen Körper gekrochen, hält mich unerbittlich in seinem Griff. Ich, ich habe längst nichts mehr im Griff. Ich richte mich im Bett auf, mein Körper hängt an mir wie ein nasser Sandsack, jede Bewegung eine Qual. Meine Hände zittern, kalter, stinkender Schweiß klebt auf meiner Haut, jede Nervenzelle schreit nach Alkohol. Ich kann diesen Zustand nicht ertragen, keine weitere Minute. In meinem Kopf nur noch ein einziger Gedanke. Schnell jetzt, schnell; ich steige hektisch in die Jeans, die vor meinem Bett auf dem Boden liegen, auf die Unterhose verzichte ich. Dann die Turnschuhe, ohne Socken, nur keine Zeit verschwenden. Mit fahrigen Bewegungen ziehe ich mir ein Sweatshirt und die Jacke über. Fahre mit dem Lift hinunter, raus aus dem Haus, über die Straße. Die nächste 24-Stunden-Tankstelle ist rund anderthalb Kilometer entfernt, ein Taxi kommt nicht in Frage. Die Wartezeit wäre ein Martyrium, der Fahrpreis würde mich eine Flasche Schnaps kosten.

      Ich schleppe mich wie ferngesteuert durch die Straßen. In dieser gutbürgerlichen Wohngegend sind sie um diese Zeit menschenleer, kein Licht in den Fenstern. Die Straßenlaternen, die Wagen am Straßenrand, die Häuser, Garagen, Gärten und Bäume der Kölner Vorstadt sind nur eine Kulisse, durch die ich mich wie ein gequälter Geist bewege. Mit mir und meinem Leben haben sie nichts zu tun. Alles um mich herum ist Kulisse, Staffage, nichts hat Bedeutung, nur der Entzug und die Gier.

      Ich durchquere das Gelände des Einkaufszentrums, die Schaufenster und Wege liegen in völliger Dunkelheit. Einige Tage zuvor habe ich hier mittags auf einer Bank gesessen und meinen Morgencognac getrunken, als ich Barbara, meine Ex-Freundin, mit ihrem neuen Lebensgefährten sah. Eine beschämende Begegnung. Wir haben uns begrüßt, betont freundlich und selbstverständlich, aber ich konnte das Entsetzen in ihrem Gesicht sehen. Danach trank ich die nächste Flasche.

      Mir ist saukalt, ich schlottere, gleichzeitig bricht mir der Schweiß aus. Ich überquere die Aachener Straße. Vier Fahrspuren, der Scheinwerfer eines Autos gleißt in meinen Augen, schneidet in meinen Kopf. Irgendwann sehe ich die Neonreklame der Tankstelle, das Licht in der Dunkelheit, die pure Verheißung. Nur noch wenige Hundert Meter, gleich ist es geschafft. Das Ende der Qualen. Ich beschleunige meinen Schritt.

      Einige Tage zuvor habe ich in meiner rastlosen, Sinne vernebelnden Gier die Tankstelle nicht gefunden, bin Stunden durch die Nacht geirrt, bis ich schließlich durch Zufall vor einer Tankstelle stand. Ein anderes Mal habe ich an der Kasse bemerkt, dass ich mein Geld vergessen hatte, der besessene Drang nach Alkohol hatte alle Gehirnfunktionen ausgeschaltet. Ein Alptraum; die Vorstellung, die Tankstelle ohne Schnaps wieder verlassen und den Weg in meinem Zustand noch zwei Mal bewältigen zu müssen, war unerträglich. Glücklicherweise trug ich meine Uhr, eine Tag Heuer, für die ich wenige Jahre zuvor mehrere Tausend Mark bezahlt hatte. In einem anderen Leben musste das gewesen sein. Ich bot dem Tankstellenangestellten die Uhr als Pfand für eine Flasche Weinbrand an, bettelte schier um Alkohol: »Du kennst mich doch, ich komme morgen mit Geld zurück und hole die Uhr wieder ab, versprochen.« Der Mann ließ sich auf den Deal ein. Ja, er kannte mich, schließlich stand ich jede zweite Nacht hier und kaufte Weinbrand.

      Ich bezahle meine Flasche mit schweißkalten Fingern. Der Verkäufer bedient mich freundlich, wie jeden anderen Kunden. Aber ich bin nicht wie die anderen, ich bin der schlotternde Typ, der in den frühen Morgenstunden Mariacron kauft, mehrfach in der Woche. Der seine teure Uhr für Alkohol verpfändet. Ich fühle mich ertappt, durchschaut. Aber die Gier ist stärker als die Scham, viel stärker.

      In einer dunklen Ecke hinter der Tankstelle, zwischen kargen Büschen, öffne ich die Flasche und trinke. Ich friere in meinen sockenlosen Turnschuhen, unter meinen Füßen der schlammige, kalte Boden. Tagsüber werden auf dem Platz die Autos gewaschen, bei Dunkelheit ist diese verborgene Ecke ein beliebtes Freiluftpissoir. Ich stehe neben der Tankstelle in der Pisse, ohne Unterhose, und saufe billigen Weinbrand aus der Flasche. Mich zurück in meine Wohnung schleppen, den Schnaps in ein Glas gießen und auf meinem Sofa trinken, nicht einmal zu dieser rudimentären zivilisatorischen Anstrengung bin ich mehr fähig.

      Als ich die Flasche absetze, ist sie halbleer. Endlich Ruhe, der Selbstekel heruntergedimmt. Ich mache mich auf den Rückweg. In meiner Wohnung, die kein Zuhause ist, es vielleicht nie war, leere ich die Flasche vollends und falle in einen unruhigen Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwache, beschließe ich, mit dem Trinken aufzuhören. So kann es nicht weitergehen, darf es nicht weitergehen. Diesen Entschluss fasse ich beinahe jeden Morgen. Spätestens in der nächsten Nacht stehe ich wieder an der Tankstelle.

      Der kleine Bernd

      Mein Vater machte sich aus dem Staub, als ich zwei Jahre alt war. Zumindest war das die offizielle Version. In Wahrheit hatte er nicht seiner Familie, sondern seinem Land den Rücken gekehrt. Wir lebten damals in Milzau, einem Dorf in der Nähe von Merseburg in Sachsen-Anhalt. 1958, noch vor dem Mauerbau, hatte mein Vater Republikflucht begangen und sich in den Westen abgesetzt. Meine Mutter, die mit uns, ihren beiden Söhnen, in der DDR geblieben war und auf eine Gelegenheit wartete, ihrem Mann zu folgen, musste verschärfte Beobachtung und Repressalien fürchten, wenn bekannt würde, dass sie in die Fluchtpläne meines Vaters eingeweiht gewesen war. Also hieß es, mein Vater sei abgehauen und hätte Frau und Kinder sitzen lassen.

      Meine Mutter, mein dreizehn Monate jüngerer Bruder Carlo und ich lebten bei unserer Oma väterlicherseits. Ungefähr ein Jahr nach meinem Vater machte sich auch meine Mutter mit uns auf in den Westen. Es war kurz vor Weihnachten, »Wir besuchen Freunde in Berlin«, hieß es.

      Aus Angst, ihre Jungs könnten sie bei der Grenzkontrolle unabsichtlich auffliegen lassen, erfuhren Carlo und ich das wahre Ziel der Reise nicht. Meine Mutter

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