Fettnäpfchenführer Taiwan. Deike Lautenschläger

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Fettnäpfchenführer Taiwan - Deike Lautenschläger Fettnäpfchenführer

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Heim‹, also dem Ort, wo die Familie ursprünglich herkommt.«

      Mei-yins lǎojiā liegt in der Nähe von Hsinchu, auf einem Dorf. Dort wohnen ihre Großeltern, beide weit über siebzig, und bewirtschaften noch ein Stück Land.

      Mei-yins Vater und der kleine Bruder beladen das Auto bis in jede Ecke mit Essen und Zutaten, auch die Einkäufe von der Dihua Road kann Sophie darunter entdecken. Mei-yin setzt sich mit Sophie nach hinten auf den Rücksitz, während ihr kleiner Bruder mit mehreren Kisten auf dem Schoß den Beifahrersitz neben Mei-yins Vater einnimmt. Der kleine Bruder scheint dìdi zu heißen, so rufen ihn jedenfalls Mei-yin und ihr Vater. Mei-yin wird in ihrer Familie jiĕjie genannt und nicht Mei-yin, so wie Sophie sie nennt. Und schon sind sie auf der Autobahn, die gen Süden, also stadtauswärts, wesentlich voller ist als stadteinwärts.

      Mei-yins Mutter ist schon vor zwei Tagen nach Hsinchu gefahren, um beim Hausputz zu helfen und bei der Vorbereitung des Festessens. Mei-yins Vater hat sich in der Zwischenzeit um das kleine Dumpling-Restaurant gekümmert.

      Im Radio spielt man das chinesische Neujahrslied hoch und runter: »In jeder Gasse und in jeder Straße, wenn man sich trifft, dann sagen alle Leute: Gōngxǐ, gōngxǐ, gōngxǐ nǐ-ya! – Herzlichen Glückwunsch, herzlichen Glückwunsch, herzlichen Glückwunsch für dich!«

      »Weißt du eigentlich, dass du eine ganz wichtige Rolle heute spielst?«, fragt Mei-yin, als sie an einer Polizeikontrolle vorbeifahren, die einen prüfenden Blick in alle Autos wirft.

      »Nein, wieso?«

      »Ohne dich dürften wir gar nicht auf der Autobahn fahren.«

      »Hm?«

      »Zum chinesischen Neujahr dürfen nur Autos mit mindestens vier Insassen auf der Autobahn fahren. Wenn du also nicht mit dabei wärst, müssten wir die ganze Strecke bis Hsinchu Landstraße fahren. Schlimm, oder? Méi guānxi! – Macht nichts! Du bist ja da.«

      Anscheinend erfordert die Völkerwanderung besondere Maßnahmen. Sophie sieht sich um und entdeckt: tatsächlich sitzen in den vielen Autos vor, hinter und neben ihnen, die sich trotz Autobahn nur langsam Richtung Süden reihen, immer vier oder mehr Personen.

      Nach über drei Stunden Fahrt inklusive einiger Zeit im Stau – obwohl Hsinchu nur 80 Kilometer von Taipeh entfernt liegt – kommen sie an. Vor Sophie liegt im Licht der Nachmittagssonne ein alter traditioneller Vierseitenhof im Originalzustand, also ohne Fensterglas und mit Fensterläden aus Holz, wie ihr Mei-yin erklärt. Sie ist offensichtlich sehr stolz auf das Haus

      »So etwas hast du bestimmt noch nicht gesehen, nicht wahr?«

      Ja, da hat sie recht. Vier kleine Häuser mit niedrigen Dächern stehen im Viereck und bilden in der Mitte einen Hof, nicht größer als ein Volleyballfeld. Die Dächer ragen an der Hofseite in den Hof hinein und bilden einen Vorsprung, sodass man, wenn man aus einer der schmalen Türen tritt, nicht sofort unter freiem Himmel steht. Im etwas größeren Haus an der Stirnseite gibt es eine Tür, durch die man direkt auf ein Möbelstück darin blickt, das wie eine Anrichte aussieht und mit Fotos, Blumen, Lämpchen und Räucherstäbchen bestellt ist – ein Altar, wie Sophie vermutet. Der Hof ist leer, nur unter dem Dachvorsprung stehen zwei alte Holzstühle. An allen Türen kleben rote, lange Papierrollen mit chinesischen Zeichen in schöner Kalligrafie von oben nach unten geschrieben.

      Mei-yin führt Sophie in den Hof zu ihrer Familie. Sie sind tatsächlich die letzten Gäste: Mei-yins Großeltern sitzen gebückt auf Holzhockern im Hof. Die kleinen braunen Augen in ihren sonnengegerbten Gesichtern sehen Sophie erstaunt von oben bis unten an:

      »Nǐ hǎo! – Guten Tag!«

      »Nǐ hǎo«, grüßt Sophie zurück.

      Auch die Kinder starren nun mit großen Augen an Sophie hoch. Mei-yin stellt alle vor: Die Großmutter und den Großvater noch einmal, dann den älteren Onkel mit seiner Frau, deren drei Kinder – zwei im Grundschulalter und mit einem Smartphone beschäftigt und ein Baby in den Armen von Mei-yins Vater, eingewickelt bis zum Hals. Und dann den jüngeren Onkel mit seiner Frau und deren zwei Kindern – beide im Kindergartenalter mit Roller und Springseil. Ganz abseits sitzt noch ein sehr alter Mann. Das ist Mei-yins Großonkel, der Bruder von ihrem Großvater, dessen Kinder und Enkel in Kanada leben und dessen Frau schon vor einigen Jahren gestorben ist.

      Schließlich kommt noch Mei-yins Mutter dazu, eine grazile Frau mit Schürze und hochgekrempelten Ärmeln. Sie hat bis jetzt in der Küche gestanden und das Festessen zubereitet. »Nǐ hǎo!«

      Alle beginnen nach einem kurzen Ruf der Begrüßung, das Auto auszuräumen, und Sophie packt mit an.

      »Eine wirklich große Familie«, staunt sie.

      »Und dabei ist das nur die Hälfte. Die Schwestern von meinem Vater, also meine Tanten, und die Schwester von meinem Opa, also meine Großtante, sind bei ihren Familien, denn bei uns ist es Tradition, dass die Frau, wenn sie heiratet, offiziell ihr Elternhaus verlässt und alle Feiertage nun mit der Familie des Ehemannes begeht. Erst am zweiten Feiertag dürfen sie ihre alte Familie besuchen«, erklärt Mei-yin.

      »Eine zweite Völkerwanderung also.«

      »Genau, zum chinesischen Neujahrsfest ist alles in Bewegung – die Hektik der Feiertage eben. An jedem der fünfzehn Tage im neuen Mondjahr ist irgendwas. Am vierten Tag spät nachmittags kehren zum Beispiel die Götter zurück in unsere Welt, denn auch die sind unterwegs. Wenigstens verursachen die keinen Stau.«

      So ernst wie Mei-yin das sagt, so lustig findet es Sophie und lacht laut los. Auch Mei-yin stimmt mit ein. Leider passt Sophie in diesem Moment nicht auf die Glasschüssel mit dem Gemüse auf, die sie in der Hand trägt. Die fällt auf den Boden des Hofes, inmitten der gesamten Verwandtschaft. Wie peinlich, denkt Sophie und merkt, wie ihr die Röte ins Gesicht und die Tränen in die Augen steigen.

      »Méi guānxi! Sag nur schnell suìsuì píng’ān!« Mei-yins Augen sehen sie bittend und ein wenig panisch an.

      Sophie schnieft. Alle um sie herum schauen entsetzt.

      »Sag suìsuì píng’ān!«, sagt Mei-yin noch einmal eindringlich.

      »Suìsuì píng’ān!«, sagt Sophie endlich, auch wenn sie keine Ahnung hat, was dieser Zauberspruch bedeutet. Auf jeden Fall aber macht er, dass alle um sie herum erleichtert aufatmen und, als wäre nichts geschehen, sich weiter unterhalten oder mit Besen und Schaufel Sophie zu Hilfe kommen.

      Sophie hat die Tränen hinuntergeschluckt. Alle sagen immer wieder »Méi guānxi! Méi guānxi!« und lächeln ihr zu.

      Sophie ist in den letzten Minuten ziemlich heiß geworden in ihrer Schamesröte, in der Nachmittagssonne und unter ihrem Pullover und der Jacke. Sie zieht sich die zwei Lagen über den Kopf. Darunter kommt ihre blütenweiße Bluse zum Vorschein. Die hatte sie in Deutschland für festliche Anlässe eingepackt, und das chinesische Neujahrsfest ist ja so einer. Sie wollte auf keinen Fall underdressed kommen.

      Da greift Mei-yin plötzlich ihre Hand und zieht sie zum Auto. Aus ihrem Koffer holt sie ein rotes T-Shirt und reicht es ihr.

      »Méi guānxi!«, meint Sophie, »Die Bluse kann schmutzig werden. Ich brauche das T-Shirt nicht, danke, jiĕjie!«

      »Ich heiße Mei-yin und das ziehst du besser an, sonst

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