Fettnäpfchenführer Taiwan. Deike Lautenschläger
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»Bùhǎoyìsi! – Entschuldigung! Ich gehe gleich los zur Metro. Einen schönen Abend!«
»Pah, von wegen schöner Abend, der kann sich auf was gefasst machen!« Queenies hübsch geschminktes Gesicht und die geschmackvoll gestylten Haare erscheinen im Spalt der Badezimmertür. »Tut mir leid wegen des Zimmers«, kichert sie auf taiwanische Art.
»Schon okay. Ich hole morgen gegen Mittag die Koffer ab.«
Sophie hat Zeit – den ganzen Abend, die ganze Nacht. Nicht mehr on hold, sondern auf Entdeckungstour ist sie nun. Es ist angenehm warm und das Freiheitsgefühl ihrer Zehen durch die Flipflops an ihren Füßen überträgt sich auf ihre Laune. Die letzten zwei Tage hatte sie das Gefühl, sie sei im Urlaub. Jetzt fühlt sie zum ersten Mal Unbeschwertheit und die Grenzenlosigkeit ihrer Möglichkeiten.
Auf dem Weg zur Metrostation lockt sie der Duft von frisch geröstetem Kaffee in eines der vielen kleinen Cafés, die man hier an nahezu jeder Ecke findet. Sophie will ihren ersten Kaffee allein bestellen, denn sie hat genau hingehört, als Queenie einmal bestellte, wie sie immer genau hinhört, wenn jemand um sie herum Chinesisch spricht. Dabei hat sie festgestellt, dass Cappuccino auf Chinesisch fast genauso klingt, nämlich kǎbùqínuò. Auf alle anderen Fragen, die wahrscheinlich Zucker und Bechergröße betreffen, antwortet Sophie »Hm« und nickt. Dabei gibt sie sich Mühe, so auszusehen, als wisse sie genau, was die anderen da reden, und bekommt wenig später ihren heißen, duftenden Cappuccino in die Hand. Vor Stolz und Aufregung sind ihre Wangen ganz heiß. Der kühle Wind aus dem Schacht streicht ihr übers Gesicht, als sie ihn die Rolltreppe zur Metro hinunterträgt. Mit dem Kaffee in der Rechten legt sie die Linke auf den Handlauf. Sie lächelt und wünscht, Jan könnte das sehen. Dann würde er bestimmt …
»Jièguò!«
»Hm?«
»Jièguò! Jièguò!«
Handbewegungen lassen Sophie verstehen, dass sie wohl im Weg steht.
»Bùhǎoyìsi! – Entschuldigung!« Sophie macht einen Schritt zur Seite und zurück, fasst wieder auf den Handlauf, schließt die Augen und atmet tief den Kaffeeduft ein.
»Jièguò!«
Obwohl es schon 23 Uhr ist, herrscht in der Metro noch Getümmel. Es scheint, als wäre zu so später Stunde die ganze Stadt auf den Beinen. Sophie erinnert sich an den Flughafen vor wenigen Tagen. Man denkt immer, ganz Taipeh sei unterwegs, dabei wohnen so viele Menschen hier auf so engem Raum, dass der Menschenstrom nie versiegt. Während sie die Rolltreppe hinunter zu den Gleisen fährt, überblickt Sophie kichernde Schulkinder in Uniformen, Bürofrauen in Kostümen, die minutenlang ohne aufzusehen auf ihrem Smartphone Nachrichten tippen, eine Gruppe junger, hipper Leute, die Selfies machen und dabei laut kreischen. Hinter ihr piepen die Sensoren der Zugangstore für die Yōuyóukǎ unaufhörlich. Die Belüftungsanlagen summen und der Sog der ein- und ausfahrenden Bahnen wirbelt Sophies Haare in die Luft. Schnell hat sie den richtigen Bahnsteig gefunden und stellt sich an die weiß gezeichnete Anstelllinie. Die Türen zischen und Sophie hat Glück – gleich am Eingang ist ein freier Platz. Bis zur Zhongxiao-Dunhua-Station sind es zehn Haltestellen, genug Zeit für ein paar Schlucke Cappuccino.
Der Mann schräg gegenüber sieht sie an und gestikuliert wild. Sophie sieht weg, sieht wieder hin – immer noch. Ein Blick nach unten – ihr Reißverschluss an der Hose ist zu. Hm, vielleicht ihre Tasche? Nein, die steht angelehnt an ihren Beinen. Andere sehen nun auch zu ihr. Liegt es daran, dass sie die einzige Ausländerin im Metrowagen ist?
»No drink!«, raunt er ihr zu, als er an der nächsten Station aussteigt.
Jetzt hört sie es auch über die Durchsage: »Please do not eat, drink, chew gum or betel nut in the Taipei Metro system. Thank you!«
Sophie spürt eine Hitze in sich aufsteigen, die nicht vom Kaffee kommt. Sie presst den Deckel auf den Becher, überlegt in Panik: nein, Kaugummi kaut sie nicht, betel nut auch nicht, was auch immer das sein mag. Dann müsste ja jetzt alles in Ordnung sein. Sie sieht sich um. Irrtum! Irgendetwas stimmt immer noch nicht. Ihr Sitz hat eine andere Farbe als die der anderen. Hinter ihr, über dem Platz klebt ein Aufkleber: Priority seat. Sophie springt auf.
»Jièguò!« Wieder steht sie Aussteigenden im Weg.
Während sie die Verbotsschilder – meist in Form eines Comics – betrachtet, macht sie im Kopf eine Liste: Nicht essen, nicht trinken, die Behindertensitzplätze freilassen und bei alledem versuchen, nicht im Weg zu stehen.
»Zhongxiao-Dunhua-Station«, hört Sophie die Durchsage tönen. »Jièguò!« Das ist ihre Station. Unglaublich schnell sind die zehn Haltestellen an ihr vorübergezogen.
Auf der Rolltreppe hinauf zum Ausgang trinkt sie schnell den Cappuccino aus, bevor sie die Eslite-Buchhandlung in der Dunhua South Road betritt. Es ist halb zwölf. Sieben Stunden hat sie nun Zeit. Das scheint plötzlich wie eine Ewigkeit.
Als Sophie die zweite Etage betritt, in der sich die Buchhandlung befindet, traut sie ihren Augen nicht. Sie hat erwartet, dass sie zu dieser Stunde fast die Einzige sein würde, aber es herrscht Hochbetrieb. Entlang der Bücherwände stehen Leute und recken die Hälse an den Regalen hinauf, scannen mit ihren Augen emsig die Titel auf den Buchrücken, ziehen ab und an ein Buch heraus, um es dann wenig später an seinen Platz zurückzuschieben. Auf Holzbänken an langen Tischen sitzen sie in Bücher oder Zeitschriften vertieft oder blättern geschäftig in Ecken hockend in dicken Wälzern. Auf dem Parkettfußboden sitzt ein Grüppchen Jugendlicher im Kreis und reicht murmelnd Bücher herum. Im Hintergrund hört man das Piepen der Kasse. Sophie wandert die Gänge auf und ab, orientiert sich an den schwarzen Schildern, die an der Decke hängen und die Abteilungen auf Englisch und Chinesisch angeben. Das Flüstern und Rascheln der Buchseiten lässt Sophie denken, sie sei in einer Bibliothek statt in einer Buchhandlung.
Bald hat sie die Sektion mit den englischen Büchern gefunden. So richtig kann sie nicht finden, wonach sie sucht. Ja, sie weiß gar nicht recht, was sie eigentlich sucht. Als sie weiterstöbert, kommt sie an einen Tisch mit Unmengen von Selbsthilfebüchern. Die meisten beginnen mit How to be better … Gern würde sie How to feel better without Jan kaufen. Der Tisch ist umringt von Lesern, die wohl alle nach Komparativen streben: effektiver im Selbstmanagement, besser im Geldverdienen, klüger beim Investieren, erfolgreicher in der Karriere, angesehener unter Kollegen, beliebter beim Chef, produktiver in der Freizeit, glücklicher in Beziehungen, konsequenter in der Kindererziehung.
Nach weiterem Bummeln entlang der Regale entdeckt Sophie Bücher für Chinesisch als Fremdsprache. Sie hockt sich erst vor das Regal, rutscht dann in den Schneidersitz. Jetzt, wo sie endlich etwas Interessantes gefunden hat, werden ihre Augen ganz schwer, ihr Kopf sinkt nach vorn ins Buch und schon glaubt sie zu träumen. Der Geruch von bedrucktem Papier mischt sich mit dem von Kaffee und lässt sie aufsehen. Und tatsächlich: hier darf man nicht nur lesen ohne zu kaufen, sondern dabei auch noch Kaffee trinken.
Gegen drei Uhr wird Sophies Kaffeetasse leer und auch langsam die Sitzecke mit ihren Tischen und Regalreihen. Die Kasse piepst seltener und alles wird noch leiser, als es vorher schon war. Trotzdem ist noch eine beträchtliche Anzahl nächtlicher Leseratten unterwegs. Sophie wundert sich. Schlafen die Taiwaner denn nicht? Doch so richtig traut sie sich nicht, jemanden anzusprechen und aus seinem Lesevergnügen zu holen. Vielleicht brauchen sie einfach noch ein How-to-Buch: How to sleep better.