Fettnäpfchenführer Taiwan. Deike Lautenschläger

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Fettnäpfchenführer Taiwan - Deike Lautenschläger Fettnäpfchenführer

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      »Dào le! – Angekommen!«, ruft Po-han und springt von seinem Platz auf. »Dào le!«, sagt er noch einmal und lacht Sophie zu. Die blinzelt noch ganz verschlafen und ist erstaunt über das Gewusel. Das Flugzeug rollt noch auf der Landebahn. Ziemlich erfolglos versucht die Stewardess, die Passagiere auf den Sitzen zu halten. Die Regentropfen draußen ziehen schräg im Fahrtwind auf Sophies Fenster entlang. Sie ist vor einiger Zeit eingeschlafen und die 13 Stunden sind so für sie wahrlich wie im Flug vergangen.

      »Dào le! Dào le! … «, hört sie immer wieder. Um sie herum sind alle damit beschäftigt zusammenzupacken, ihre Sachen aus den Gepäckfächern zu holen und Freunde und Familie lautstark anzurufen und von ihrem dào le zu berichten. Po-han summt vor sich hin, kontrolliert, ob er alles bei sich hat. Zwei Reihen vor ihm steht Mei-yin schon bereit zum Aussteigen da. Das Flugzeug ruckt, die Anschnallzeichen erlöschen. Dào le – nun wirklich. Auch die Regentropfen am Fenster sind fast zum Stillstand gekommen. Dahinter ist alles grau und dunkel.

      »Hier, Mei-yins und meine Handynummer. Ruf an, wenn du hast ein bisschen Probleme. Wir sind immer gern helfen. Und chinesisches Neujahr wir feiern zusammen.« Und damit haben sich Po-han und Mei-yin schon in die Schlange eingereiht, um das Flugzeug zu verlassen.

      Sophie ist froh, wieder allein zu sein. Sie will jeden neuen Schritt in Ruhe gehen, alles genießen, die neue Welt in sich aufsaugen – so wie es wahrscheinlich Jan getan hat vor einem halben Jahr irgendwo in Südamerika.

      Im Vergleich zum Frankfurter Flughafen ist der Internationale Flughafen Taiwan Taoyuan klein, umso größer aber das Gewimmel und der Trubel. Es scheint, als seien neben Sophie noch tausende anderer Leute in hunderten anderer Flugzeuge gleichzeitig angekommen. Die meisten identifiziert Sophie als Taiwaner. War die kleine Insel denn bis vor kurzem leer? Und nun kommen plötzlich alle zurück?, denkt Sophie.

      Erstaunlich schnell ist die Passkontrolle erledigt. Während Sophie in der Warteschlange für Ausländer steht, beobachtet sie im Augenwinkel, dass die Taiwaner voll elektronisch mit ihrem Pass durch Glaskabinen mit Kameras und Scannern eingelassen werden. Hightech-Passkontrolle in Taiwan, ein bisschen wie im Supermarkt, wenn die Produkte über das Barcodelesegerät gezogen werden, schmunzelt Sophie in sich hinein.

      »Nĭ hăo!«, sagt der Beamte und stempelt ihr Visum ab. »Dào le!«, sagt Sophie und holt ihren Koffer. Sie findet den Schalter für den Bus in die Stadt und kauft auf Englisch problemlos ein Ticket bis zum Hauptbahnhof – so wie es Chen Zi-ting vom Couchsurfing ihr geraten hat. Dann soll sie mit dem Taxi weiterfahren. Kaum eingestiegen, lässt sie der anfahrende Bus rücklings in den Sitz plumpsen. 30 Kilometer sind es bis in die Stadt. Die Autobahnen sind nicht nur unzählig mehrspurig, sondern auch mehrstöckig. Mal fährt der Bus 40 Meter über dem Erdboden über vier oder fünf anderen Autobahnen hinweg, mal fährt er unter Autobahnen hindurch auf Straßen gesäumt von Gebäuden mit Reklameschildern aus blinkenden Neonröhren. In der Ferne leuchten die Hochhäuser der Innenstadt. Schnell hat Sophie auch den Taipei 101 entdeckt, der weit über das Lichtermeer hinausragt und heute im roten Schein erstrahlt. Mit jedem Meter kommt sie ihrem neuen Leben näher. Sie hüpft während der einstündigen Fahrt ungeduldig auf dem Sitz umher, verbiegt sich am Fenster, um auch jedes Detail draußen wahrzunehmen.

      »Dào le!«, ruft der Busfahrer nach hinten. Sophie sieht aus dem Fenster: rechts liegt der riesige Hauptbahnhof von Taipeh, links stehen gelbe Taxen in Reihe und warten auf Fahrgäste.

      Sophie steigt aus dem Bus in eines der Taxen um und zeigt dem Fahrer die Adresse, die sie sich von der Internetseite ausgedruckt hat. Der nickt und fährt los. Nach zehn Minuten Fahrt sagt auch er »Dào le!« und zeigt auf eins der mehrstöckigen Häuser in einer kleinen Gasse.

      Auch wenn alles problemlos gelaufen ist, so haben doch die Einreise, das Gepäckholen und die Fahrt nach Taipeh länger gedauert, als sie dachte. Nun ist es schon elf Uhr abends. Sophie ist es peinlich, so spät noch bei ihrer Gastgeberin zu klingeln. Vielleicht schläft die gar schon. Unentschlossen steht Sophie vor der Tür und betrachtet das Klingelschild. Da fällt ihr auf, dass sie gar nicht klingeln kann. Neben den Klingelknöpfen steht nämlich kein einziger Name. Woher soll sie wissen, welchen der acht Knöpfe sie zu drücken hat? Wie peinlich wäre ein ungewollter Klingelstreich – erstens würde sie zu so später Stunde stören, zweitens könnte sie sich gar nicht erklären, sie spricht ja kein Chinesisch, und drittens könnte sie mit all dem Gepäck nicht einmal wegrennen.

      Nun beginnt es auch noch zu regnen. Sophie zittert in ihrer dünnen Strickjacke. Schon im Bus war ihr aufgefallen, dass sie wohl die falsche Garderobe eingepackt hat. Um sie herum saßen alle mit dicken Wintermänteln und Schals. Sophie schaut am Haus hoch. Ihr Blick gleitet an den vergitterten Fenstern und Balkonen entlang. Dazwischen drücken sich rankende Pflanzen ins Freie. Blumenkübel hängen an den Geländern und auf dem Dach strecken sich kleine Bäume neben Wasserkanistern in die Höhe. Sophie beginnt die Etagen abzuzählen, denn laut Adresse soll Chen Zi-ting in der dritten Etage wohnen. In beiden Wohnungen in der dritten Etage brennt kein Licht. Sophie ist verzweifelt, sie muss nun wohl oder übel jemanden aus dem Schlaf reißen.

      »Nun bleibt nur noch die Frage, ob rechts oder links«, murmelt sie bei sich, »Ene, mene muh, raus bist …«

       »Nĭ hăo! Nĭ hăo! Sophie dào le!«

      In der zweiten Etage entdeckt sie auf dem Balkon eine Frau. Vor Sophies innerem Auge erscheint das Profilfoto auf der Couchsurfing-Seite: eine junge Frau, die lächelt und dabei ihre Augen ganz weit öffnet, die Backen aufbläst, den Kopf schief legt und sich mit dem Zeigefinger in die rechte Backe pikst. Schwer zu sagen, ob das Chen Zi-ting da oben ist. Aber sie muss es wohl sein, denkt Sophie, denn die Frau da oben kennt ja ihren Namen. Nur, warum ist sie in der zweiten Etage? Das Türschloss summt und Sophie steigt die Treppen hinauf.

      »Hello Chen! I am very very sorry that I am so late«, entschuldigt sich Sophie.

      »Not late at all! It’s only 11.30!«, zuckt die Gastgeberin mit den Schultern. »Just don’t call me Chen. That is my family name. Call me Zi-ting or by my English name Queenie.«

      Die schlanke junge Frau tritt zur Seite, um Sophie hereinzulassen.

      »I already learned some Chinese: Dào le!«, verkündet Sophie froh und entledigt sich im Flur ihrer Schuhe und ihres Gepäcks. Queenie bläst die Backen auf, aber ohne dabei königlich zu lächeln wie auf ihrem Profilfoto.

       Was ist diesmal schiefgelaufen?

      Anderes Land, andere Zeiten und andere Orte.

      Was Sophie als ein Fettnäpfchen gefürchtet hat, nämlich ihre späte Ankunft bei Chen Zi-ting, ist gar keins: Taiwaner bleiben lange auf. Sie sind regelrechte Nachteulen. Vor Mitternacht gehen sie selten zu Bett. Selbst Kleinkinder sieht man oft noch abends nach neun Uhr auf der Straße. Schulkinder bleiben oft bis nach elf Uhr munter, wegen der ganzen Hausaufgaben und Nachhilfekurse – und nicht selten auch wegen Computerspielen.

      Bei den Orten hätte sich Sophie aber fast vertan: Sie hat die Etagen falsch gezählt und hätte deshalb auf jeden Fall die falsche Klingel betätigt, wenn sie Chen Zi-ting nicht bemerkt hätte. Das Erdgeschoss zählt, wie in einigen asiatischen Ländern, auch in Taiwan als die erste Etage. Die zweite Etage in Deutschland ist also umgerechnet die dritte Etage in Taiwan.

      Die zweite örtliche Verfehlung führte dann in ein Fettnäpfchen: Sophie hat erst in der Wohnung die Schuhe ausgezogen. Aber was in Deutschland meistens im Hausflur passiert, das macht man in Taiwan noch, bevor man die Wohnung oder das Haus betritt.

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