Auf dem rechten Weg?. Aiko Kempen
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Auf dem rechten Weg? - Aiko Kempen страница 5
Die geringe Zahl der Verurteilungen reiht sich ein in ein Gesamtbild: Insgesamt werden zwischen Januar 1989 und September 1994 in 3324 Ermittlungsverfahren gegen namentlich bekannte Hamburger Polizeibeamte nur rund zwei Dutzend Polizisten verurteilt. Mehr als 95 Prozent der Verfahren werden bereits von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Dabei waren insgesamt 70 Polizisten gleich fünfmal oder noch häufiger Beschuldigte in einem Strafverfahren – ein Polizist allein ganze 16 Mal.14 Hamburgs Polizeidirektor Richard Peters, der ignorierte, dass Whistleblower Uwe Chrobok ihm schon Monate vor dem Skandal über rassistische Gewaltexzesse seiner Kollegen berichtete, wird 1997 schließlich wegen Strafvereitelung im Amt verurteilt. Er muss 1000 DM an den Polizeiverein Hamburg zahlen, in dem er selbst Mitglied ist.
Im Juli 1995 spricht das Landgericht Berlin zwei Polizisten frei, die noch in erster Instanz zu Geldstrafen verurteilt wurden. Sie waren beschuldigt, einen Iraner misshandelt zu haben. | Zwei bayerische Polizisten verprügeln in ihrer Freizeit drei Punks. Am 6. Februar 1996 werden die Beamten zu Geldstrafen verurteilt. | Im März 1997 erhält ein Frankfurter Polizist eine Bewährungsstrafe über neun Monate. Er hatte einen israelischen Falschparker festgenommen, geschlagen und getreten.
Dass die gehäuften Vorwürfe rassistischer Polizeigewalt keineswegs Verurteilungen mit sich bringen, zeigt sich in den 1990er-Jahren vielerorts. Auch in Berlin ergibt sich ein ähnliches Bild wie in Hamburg. »Bisherige Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte haben Behauptungen, es gäbe rassistische und kriminelle Übergriffe seitens Berliner Polizeibeamter, in keinem Fall bestätigt«, erklärt Berlins Innensenator Dieter Heckelmann im Februar 1993.15 Vier Wochen zuvor hatte seine CDU-Parteikollegin und Ausländerbeauftragte Berlins Barbara John persönlich Strafanzeige gegen Berliner Polizisten gestellt. Ein iranischer Student hatte in ihrem Büro berichtet, wie er an Heiligabend 1992 von Polizisten rassistisch beleidigt und misshandelt worden sei. Eine Zeugin des Vorfalls schildert, die Polizeibeamten hätten den Studenten »wie ein Stück Vieh« behandelt.16 Medienberichte im Tagesspiegel und im ZDF über den Fall ermutigen andere Betroffene, Fälle rassistischer Polizeigewalt ebenfalls anzuzeigen. Für Schlagzeilen sorgen vor allem mehrere Fälle, in denen Berliner Polizisten vietnamesische Zigarettenhändler gequält haben sollen. In rund 150 Fällen ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft in den Jahren 1993 und 1994 wegen Polizeiübergriffen auf Ausländer. Doch trotz zahlreicher und detaillierter Vorwürfe gegen Polizisten werden nur wenige Beamte verurteilt, der größte Teil der Ermittlungen wird eingestellt. In den wenigen Verurteilungen gegen Polizisten kommt es zumeist nur zu geringen Bewährungsstrafen. Die Verurteilten dürfen damit im Polizeidienst bleiben. Anfang 1995 wird eine eigens zur Aufklärung ausländerfeindlicher Polizeidelikte gegründete Ermittlungsgruppe in Berlin wieder aufgelöst.
Alte Fragen, vergessene Antworten
Am Ende steht ein Bild, das zwei Deutungen zulässt, die widersprüchlicher kaum sein könnten: Seit Jahrzehnten enden Ermittlungen gegen Polizisten in den meisten Fällen ergebnislos. Innenpolitik und Polizeiführung sehen dies als Beleg, dass es sich lediglich um »Einzelfälle« durch einige »schwarze Schafe« handele. Für Kritiker zeigt es hingegen verschleppte Aufklärung und mangelnden Verfolgungswillen der Justiz.
Aber kann man dieses Bild auf die Gegenwart übertragen? Die deutsche Polizei hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten erheblich verändert. Sie ist akademisierter, diverser und weniger männlich dominiert geworden. Gewaltfreie Konfliktlösungen und Seminare gegen Diskriminierung sind fester Teil der modernen Ausbildung. Viele dieser Veränderungen sind eine direkte Reaktion auf die Skandale der Neunzigerjahre, allen voran auf den Hamburger Polizeiskandal. Zugleich gilt, dass man die Polizei nicht losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen betrachten darf, auch wenn sie kein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Als in den Jahren nach der Wiedervereinigung Deutschlands erstmals gehäuft über rassistische Polizeigewalt diskutiert wurde und zahlreiche Skandale hochkochten, prägte rechte Gewaltkultur weite Teile des wiedervereinigten Deutschlands, gerade im Osten der Republik. Rechtsextreme zündeten Wohnhäuser und Asylbewerberheime an und prägten mit rechter Dominanz und Gewalthegemonie den Alltag vieler Menschen, die in ihr Feindbild fielen. Wesentliche Teile dieses Jahrzehnts werden mittlerweile rückblickend als »Baseballschlägerjahre« bezeichnet.
Mit dem starken Zuzug von Geflüchteten ab 2015, dem Beginn von rechten Protestbewegungen wie Pegida und dem Erstarken der AfD sind rassistische und rechtsextreme Einstellungen in den letzten Jahren erneut deutlich sichtbarer geworden. Ebenso häufen sich die Berichte über rassistische und rechtsextreme Umtriebe in der Polizei erneut – auch wenn das Thema nie ganz aus der Öffentlichkeit verschwunden war. »Zwar wurden im Gegensatz zu den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts weniger Vorwürfe – jedenfalls in der breiteren Öffentlichkeit – gegenüber der Polizei hinsichtlich von Übergriffen oder sogar ›Folter‹ erhoben«, resümierte der Sozialwissenschaftler Karlhans Liebl 2009, »jedoch zeigten Diskussionen mit den beteiligten Gruppierungen, dass man sicherlich noch nicht davon ausgehen kann, dass dies nun kein gesellschaftliches Problem mehr darstellt.«17 Beschäftigt man sich also näher mit der deutschen Polizei, offenbart sich ihm zufolge auch jenseits der großen Polizeiskandale der Neunzigerjahre ein anderes Bild vom Zustand unserer Sicherheitsbehörden.
Doch sind es nicht allein die Parallelen in den Vorwürfen gegen Polizeibeamte, die zu rassistischer Gewalt oder gar rechtsextremen Vernetzungen neigen sollen, die hier besonders ins Auge fallen. Der Blick zurück zeigt vor allem eine Kontinuität im Umgang von Polizeiführungen und Innenpolitik mit dem Thema. Dies ist umso erstaunlicher angesichts der Tatsache, dass Innenpolitiker und Führungskräfte der Polizei auf aktuelle Polizeikritik noch immer reagieren, als würde man sich erstmals mit dem Thema auseinandersetzen müssen; als würde man nicht seit Jahrzehnten die gleichen Reaktionen auf identische Vorwürfe abspulen. Man muss eine Diskussion über »Einzelfälle« und »schwarze Schafe«, wie sie das Jahr 2020 dominierte, stets in dem Bewusstsein betrachten, dass jede dieser Fragen bereits gestellt, jede Kritik bereits genauso erhoben wurde. Und dass bereits vor einem Vierteljahrhundert Antworten auf diese Probleme gegeben wurden. Antworten, die einem beängstigend aktuell und vertraut erscheinen.
Am 13. November 1996 legt der Untersuchungsausschuss zum Hamburger Polizeiskandal seinen 1137 Seiten umfassenden Abschlussbericht vor. Allein das Kapitel »Falsch verstandene Kollegialität innerhalb der Polizei« nimmt mehr als einhundert Seiten ein. Am Ende des Berichts kommt der Ausschuss zu einem klaren Fazit: »Ein erstes Manko besteht darin, dass die Untersuchung von Fehlverhalten regelmäßig bei der Betrachtung von Einzelfällen verharrt.«18 Die hinter dem Fehlverhalten stehenden Strukturen würden nicht aufgedeckt.
Exakt ein Jahr und einen Tag nach Veröffentlichung des Untersuchungsberichts misshandeln zwei Beamte der Hamburger Wache 16 einen Sierra-Leoner bei einer Kontrolle schwer. Drei weitere Kollegen werden später wegen Beihilfe verurteilt.
VIEL ZU VIELE EINZELFÄLLE
Es ist der 16. September 2020: Mehr