Kapitalismus und politische Demokratie. Joachim Perels

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soll der autonome Wettbewerb gleichstarker Unternehmen ermöglicht werden. »Subjektiv anarchisch, objektiv harmonisch«5 sollen die Gesetze des Warenverkehrs, gelenkt von einer »invisible hand« (Adam Smith), sich hinter dem Rücken der Produzenten, insbesondere bei der Preisbildung durchsetzen; damit sei das größte Glück der größten Zahl verbürgt.

      Die Autonomie der bürgerlichen Gesellschaft, deren verfassungsstruktureller Ort als »die Differenz (erscheint), welche zwischen die Familie und den Staat tritt«6, wird durch das System der Grundrechte geschützt. Die individuellen Grundrechte (Gewissensfreiheit, persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Briefgeheimnis, Privateigentumsrecht) sichern die privatautonome Sphäre, in der die wirtschaftliche Initiative der Bürger sich ungestört entfalten kann. Das Privateigentum, auf dem die Reproduktion der Gesellschaft beruht, ist als Hauptinstitution der bürgerlichen Gesellschaft »in der Periode des Konkurrenzkapitalismus von den entscheidenden konnexen Freiheitsrechten der Vertrags- und Gewerbefreiheit umgeben. Der Eigentümer an den Produktionsmitteln muß das Recht haben, einen Gewerbebetrieb zu errichten oder zu schließen, er muß das Recht haben, Kauf- und Tauschverträge, Miet- und Pachtzinsverträge, Darlehns- und Hypothekenverträge abzuschließen, weil er nur durch die Anerkennung dieser Freiheitsrechte produzieren kann (…). Der Vertrag, die rechtliche Form, in der der Mensch seine Freiheit bestätigt, ist konstitutives Element der bürgerlichen Gesellschaft in der Periode der freien Konkurrenz. Er hebt die Isolierung der Eigentümer auf, er vermittelt zwischen ihnen und wird damit so notwendig wie das Eigentum selbst«.7 Neben die individuellen Freiheitsrechte treten die auf öffentlichen Räsonnement bezogenen Grundrechte (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), die es dem Bürger ermöglichen, im Wege öffentlicher Diskussion, welche unter der absolutistischen Monarchie ausgeschlossen war,8 seine Interessen zu artikulieren. Clearingstelle für diese Interessen wird das Parlament als der Vermittlungsinstanz zwischen den bürgerlichen Privatinteressen und der Exekutive.

      Im Parlament konzentriert sich die Herrschaft des Bürgertums. Das Zensuswahlrecht schirmt die Klassen, denen kein kapitalistisch fungierendes Privateigentum zur Verfügung steht, vom Parlament ab, hält sie in politischer Hörigkeit. Zwei Wochen nach der Annahme der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung von 1789 »verkündete der bedeutendste Staatsrechtler der Nationalversammlung, der Abbé Sieyès: ›Frankreich ist keine Demokratie und darf zu keiner solchen gemacht werden.‹ Und gleich darauf hob die Versammlung den Grundsatz der politischen Gleichheit auf und reservierte das Wahlrecht für die Besitzenden (…). Sieyès fand auch die richtigen Definitionen, um diese Klasseneinteilung und damit das Wesen der neuen Gesellschaftsordnung deutlich zu machen. Er definierte die Aktivbürger als die ›wahren Aktionäre des sozialen Unternehmens‹, die Passivbürger als die ›Arbeitsmaschinen‹ dieses Betriebes.«9 Die Repräsentanten von Besitz und Bildung, durch eine homogene Interessenbasis miteinander verbunden, die antagonistische Konflikte im Gesetzgebungsverfahren ausschließt, entscheiden im Parlament über die Eingriffe in Eigentum und Freiheit (also des Bereichs institutioneller Garantien und Grundrechte), von denen sie selbst betroffen werden. Das parlamentarische Gesetz kann insofern als die Quersumme ihrer Interessen fungieren.10 Das Gesetz muß, um den allgemeinen Interessen des kapitalistisch produzierenden Bürgertums zu genügen, eine generelle Norm ohne rückwirkende Kraft sein: so erscheint eine Privilegierung ausgeschlossen, die Gleichheit der Wettbewerber in der freien Konkurrenz gesichert. Gleichzeitig garantiert die generelle Norm, »der archimedische Punkt des Rechtsstaats« (Rudolf von Gneist), die für den kapitalistischen Betrieb konstitutive Kalkulation der Gewinnchancen: Eingriffe in die Sphäre von Privateigentum und Freiheit sind, da sich aus der allgemeinen Norm im Wege des logischen Schluß Verfahrens eine zwingende Auslegung ergibt, berechenbar. Sie geschieht durch die keiner Suprematie unterliegende Judikative, die, allein an das Gesetz gebunden, als »Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht«10a, fungiert.11

      Entsprechend der gesellschaftlichen Lage der Bourgeoisie nimmt der bürgerlich-parlamentarische Rechtsstaat eine Zwischenstellung zwischen der Fürsten- und der Volkssouveränität ein.12 »Revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen die Revolutionäre«13 ist das Bürgertum darauf bedacht, die mit dem Privatrechtssystem sanktionierte Minoritätsherrschaft der Produktionsmittelbesitzer nicht durch das verfassungsstrukturelle Formprinzip der Demokratie des ganzen Volkes gleichsam hinterrücks bedrohen zu lassen.14 Der (…) »Gegensatz von Liberalismus und Demokratie zeigt sich (…) in seiner entscheidenden Bedeutung als der Gegensatz der Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates gegen die Konsequenzen eines politischen Gestaltungsprinzips. Das liberale Bürgertum stand zwischen der absoluten Monarchie und der nachdrängenden proletarischen Demokratie (…). Das kritische Jahr 1848 hatte die Lage sehr auffällig gezeigt: gegenüber den politischen Ansprüchen einer starken Monarchie machte das Bürgertum die Rechte des Parlaments, d. h. der Volksvertretung, also demokratische Forderungen geltend; gegenüber einer proletarischen Demokratie suchte es Schutz bei einer starken monarchischen Regierung, um bürgerliche Freiheit und Privateigentum zu retten. Gegenüber Monarchie und Aristokratie berief es sich auf die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, gegenüber einer kleinbürgerlichen oder proletarischen Massendemokratie auf die Heiligkeit des Privateigentums und einen rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff.«15 Die auf den Schutz des Privatrechtssystems zugeschnittene rechtsstaatliche Verfassungsstruktur steht somit quer zur Demokratie, weil sich in ihr der vierte Stand, das Proletariat, dessen Eigentumslosigkeit die Voraussetzung des Privatrechtssystems bildet, gegen die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft stellen kann. Im bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaat wird der absolute Herrscher vom Thron gestoßen, damit ihn das absolute Kapital besteigen kann.16 Im Rechtsstaat schützt es seine soziale Macht. Die Verfassungsstruktur ist mit dem Privatrechtssystem synchronisiert.

      Dies trifft mit einer spezifischen Variante auch für das Deutschland des Reiches von 1871 zu. Bedingt durch die politische Schwäche des Bürgertums, das zuletzt vor der Fürstensouveränität im preußischen Verfassungskonflikt kapituliert hatte, wurde die Substanz des Privatrechtssystems nicht durch die Vorherrschaft des Parlaments garantiert, sondern durch die quasi-absolutistische Bürokratie und Judikative, die den formalen Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats (allgemeines Gesetz, Gewaltenteilung, Grundrechtssystem) unterlagen und sie gewährleisteten. Die deutsche konstitutionelle Monarchie enthält die rechtsstaatliche Beschränkung der königlichen Gewalt, ohne das monarchische Prinzip zu beseitigen.17 »Der Monarch blieb der Träger der verfassungsgebenden und damit verfassungsgesetzlich nicht zu erfassenden, prinzipiell unbegrenzten Gewalt.«18 Auf diesen Sachverhalt, der Garantie der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit für das Bürgertum und dessen Abstinenz von der politischen Herrschaft durch das Medium des Parlaments, ist die deutsche formalisierte Rechtsstaatstheorie, die, im Gegensatz etwa zu England, die Rechtsform von der politischen Struktur des Staates abspaltet, bezogen.19 Der Rechtsstaat »bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen«.20 Dieser Satz von Friedrich Julius Stahl wurde von Rechtsstaatstheoretikern des Kaiserreichs kanonisiert: die politische Schwäche des Bürgertums, »Ziel und Inhalt des Staates« zu bestimmen, zeitigte eine entsprechende Verfassungstheorie.21 Sie tangierte freilich nicht den Schutz des bürgerlichen Privatrechtssystems; sie entsprach vielmehr den Interessen eines Bürgertums, das sich einem sich organisierenden Proletariat gegenübersah, gegen das der Monarch als fortexistierender legibus solutus probate Machtmittel – wie das Sozialistengesetz – anzuwenden versprach.

      2 K. Marx, Zur Judenfrage, MEW Bd. 1, Berlin 1972, S. 369.

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