Melodie der Liebe. Barbara Cartland
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Roberta begriff, daß all die Verleumdungen, die etwas abgeklungen waren, wieder von vorne beginnen würden.
Das ertrage ich einfach nicht mehr! dachte sie verzweifelt. Noch einmal zwei Jahre lang diese Tyrannei, bis ich dann vielleicht heirate, wie es von mir erwartet wird! Immer wieder aufs Neue diese Vorwürfe gegen den Vater, denen sie nichts entgegenzusetzen hatte.
Roberta betrat den Salon nicht, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Sie ging die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer, setzte sich ans Fenster und blickte hinaus. Doch sie nahm die ersten grünen Frühlingsknospen an den Bäumen gar nicht wahr; die goldgelben Narzissen im hohen Gras, die vor kurzem geborenen Lämmer, die zum ersten Mal über die Wiesen hüpften. Sie sah nur im Geiste ihren lachenden, augenzwinkernden Vater vor sich. Und mit einem Mal hatte sie das Gefühl, das Leben sei unsagbar aufregend und sie könne alles erreichen, was sie nur wolle, ja sogar den Mond.
Er ist allein, sagte sie sich. Jetzt kann ich zu ihm fahren.
Sie war zwar erst sechzehn, hatte jedoch eine Auffassungsgabe und einen Scharfsinn entwickelt, die ihrem Alter weit voraus waren - »etwas, was sich bei einer jungen Dame nicht gerade vorteilhaft macht«, wie ihre Lehrerin aus dem Dorf sich gelegentlich etwas spitz ausdrückte.
Sorgfältig schmiedete Roberta ihre Pläne. Selbstverständlich durfte sie nicht allein nach Paris reisen. Sie dachte daran, daß die Großmutter eine ältere Hausangestellte von Worth Park mit nach Essex genommen hatte und ihr ein kleines Häuschen zur Verfügung gestellt hatte. Die Dienerin war darüber nicht gerade glücklich, da man sie einfach aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen hatte. Sie hatte ihr ganzes Leben in Worth Park gearbeitet und dort unter den Dienstboten oder im Dorf in der Nähe all ihre Freunde gehabt. Als sie damals die Countess bat, sie aus den Diensten der Wentworths zu entlassen, hatte sie gehofft, zurück nach Worth Park geschickt zu werden; doch die Countess hatte absolut nichts mehr mit dem Besitz ihres Sohnes, der inzwischen von Anwälten verwaltet wurde, zu tun haben wollen. So mußte Gracie, die alte Dienstmagd, in einem Häuschen im Dorf leben.
Da Gracie für Roberta den einzigen Kontakt darstellte, den sie noch zu ihrem eigentlichen Zuhause hatte, besuchte sie sie mindestens einmal in der Woche, und sie plauderten über die alten Tage, als ihre Mutter noch lebte. Gracie verehrte den Earl of Wentworth sehr, und niemand konnte sie dazu bringen, auch nur ein einziges Wort zu seinen Ungunsten zu sagen. Deshalb genoß es Roberta sehr, Gracie zuzuhören, die ihren Vater in höchsten Tönen lobte.
Am darauffolgenden Morgen ritt Roberta in Begleitung eines Dieners zu Gracies Haus. Dem Diener befahl sie, zu warten und ihr Pferd zu halten, dann ging sie hinein.
»Ach, Sie sind es, M’lady!« rief Gracie erfreut. »Ich warte schon ungeduldig darauf, daß ich Sie sehe. Ich muß Ihnen unbedingt etwas erzählen!«
»Ich weiß schon Bescheid, Gracie. Du hast gehört, daß Lady Bingham wieder zu Hause ist.«
»Oh, Sie wissen es schon?« Gracie war sichtbar enttäuscht. Sie hatte die Erste sein wollen, die es Roberta erzählte.
»Ja, ich weiß es bereits. Aber da Papa jetzt allein ist, werde ich zu ihm fahren, Gracie.«
»Nein, das können Sie doch nicht tun, M’Lady!« protestierte Gracie entsetzt. »Was wird die Countess dazu sagen?«
»Ganz sicherlich eine Menge, Gracie, aber erst, wenn ich nicht mehr hier bin!«
»Sie meinen, Sie wollen zu Ihrem Vater, ohne der Countess etwas davon zu sagen?«
»Ja. Sie kann dann raten, wohin ich gefahren bin.« Roberta lächelte. »Ich werde nach Paris fahren, um Papa zu finden. Und du kommst mit, Gracie!«
Gracie, die im Alter von neunundsechzig Jahren noch äußerst unternehmungslustig und gut zu Fuß war, sah sie voller Überraschung an.
»Sagten Sie, ich soll mit Ihnen fahren, M’Lady?«
»Ja, Gracie. Du weißt, daß ich nicht allein reisen darf. Mama hätte das niemals gebilligt. Deshalb mußt du mich begleiten.«
Gracie holte aufgeregt Luft, und weil sie Roberta über alles liebte und die Aussicht auf eine Reise ihr sehr verlockend schien, erklärte sie sich sofort einverstanden.
Die Situation, in der sich Roberta nun befand, war zwar nicht leicht zu meistern, aber hatte Roberta sich erst einmal zu etwas entschlossen, so war sie genauso beharrlich wie ihr Vater, und nachdem die ersten Schritte getan waren, lief alles mehr oder weniger wie von selbst.
Sie verfügte über kein Bargeld, da sie nur selten zum Einkaufen ging und sie von ihrer Großmutter nur Taschengeld in der Höhe bekam, wie sie selbst es als junges Mädchen von ihren Eltern erhalten hatte. Das reichte keinesfalls, um nach Paris zu reisen. Sie beschloß, bis zum Monatsende zu warten, weil dann die Dienstboten und die Arbeiter, die auf dem Besitz tätig waren, ausbezahlt wurden. Das bedeutete, daß der Verwalter des Grundstückes - ein etwas schwerfälliger Mann mittleren Alters - am Nachmittag vor dem Monatsende nach Hall kam, um sich im Verwalterbüro, wie der Raum allgemein genannt wurde, einzurichten und das Geld zu zählen, das die Leute am darauffolgenden Morgen erhielten. Sobald er alles ordentlich in kleinen Beuteln verstaut hatte, schloß er sie über Nacht im Safe ein und händigte den dazugehörigen Schlüssel der Großmutter aus.
An dem betreffenden Nachmittag wartete Roberta, bis sie hörte, wie sich der Verwalter von ihrer Großmutter verabschiedete. Wie üblich legte die alte Lady den Schlüssel in die rechte Schublade ihres Schreibtisches und begab sich nach oben, um sich für das Abendessen umzukleiden.
Roberta eilte zum Schreibtisch, nahm den Schlüssel und öffnete den Safe. In wenigen Minuten war sie fertig und hatte das gesamte Geld aus den Beuteln in eine kleine Kassette geleert, die sie mitgebracht hatte. Dann schrieb, sie auf einen Zettel: »Das Geld habe ich genommen. Du wirst es von meinem Vater, dem Earl of Wentworth, zurückerhalten.«
Sie unterzeichnete die Notiz mit einem Schnörkel, legte sie so in die Schreibtischschublade, daß ihre Großmutter sie gleich sehen mußte, wenn sie diese öffnete, und den Schlüssel zum Safe dazu. Anschließend ging sie, wie jeden Abend, die Treppe hinauf, wünschte ihrer Großmutter und ihrer Tante eine gute Nacht und zog sich in den Schulraum zurück, in dem sie wie gewöhnlich allein aß. Da sie erst sechzehn war, durfte sie nur zu besonderen Anlässen die Mahlzeiten mit den beiden Damen einnehmen. Sie zog es ohnehin vor, für sich zu sein beim Essen, da sie dann dabei lesen konnte. Sie langweilte sich immer, wenn sie bei der Großmutter und Tante Emily im Speisesaal sitzen mußte, weil sich dort das Essen, das von einem Diener und zwei Lakaien serviert wurde, sehr lang hinzog.
An diesem Abend allerdings war sie zum Lesen viel zu aufgeregt. Sie rührte das Essen, das zwar gut zubereitet war, dem jedoch jegliche Abwechslung fehlte, nicht an und ließ es wieder in die Küche bringen. Dann zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück, um sich zu vergewissern, daß für den folgenden Morgen alles vorbereitet war.
Am schwierigsten war das Problem zu lösen gewesen, von der Großmutter unbemerkt die Kutsche, die man im Ort mieten konnte, zu bestellen.
Gracie war jedoch auf eine Idee gekommen: »Ich kann einfach sagen, eine Verwandte von mir sei schwer krank geworden, und Tom Hanson würde mich mit seiner Kutsche zum Bahnhof bringen. Der kommt jederzeit zu mir.«
»Ja, das ist eine prima Idee, Gracie! Warum bin ich denn nicht selbst darauf gekommen? Sag ihm, er soll morgens um halb fünf vor deinem Haus eintreffen. Dann können wir mit dem Milchzug nach London fahren, der, soweit ich weiß, um fünf Uhr von Chelmsford abfährt.«
»Gut,