Über die Freiheit. John Stuart Mill
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Es gibt jedoch ein Gebiet der Tätigkeit, für das die Gesellschaft, im Unterschied von dem Einzelnen, wenn überhaupt ein Interesse, nur ein indirektes hat. Dieses Gebiet umfasst alle Teile des persönlichen Lebens und Treibens, die nur ihn selbst berühren, oder wenn sie andere berühren, nur mit deren freien, wissentlichen und billigenden Zustimmung und Teilnahme. Wenn ich sage »nur ihn selbst«, so meine ich damit ihn direkt und in erster Linie; denn was immer ihn selbst berührt, kann auch durch ihn andere berühren, und die Einwände, die auf diese Möglichkeit gegründet werden können, sollen später in Betracht gezogen werden. Dies ist also das abgegrenzte Gebiet der menschlichen Freiheit. Es umfasst vor allem das Feld des inneren Bewusstseins, verlangt im ausgedehntesten Sinne Gewissensfreiheit, Freiheit des Denkens und Fühlens, unbedingte Freiheit der Meinung und Empfindung über alle Gegenstände, praktische oder spekulative, wissenschaftliche, sittliche oder theologische. Die Freiheit, seine Meinung auszudrücken und zu veröffentlichen, scheint wohl unter ein anderes Prinzip zu fallen, da sie demjenigen Teil der Handlungen des Individuums angehört, der andere Leute betrifft; da sie jedoch fast so wichtig ist, wie die Gedankenfreiheit selbst und großenteils auf denselben Gründen beruht, so ist sie praktisch nicht davon zu sondern. Zweitens erfordert das Prinzip Freiheit des Genusses und des Strebens; unsern Lebensplan nach unserm eigenen Charakter zu bilden, zu tun, wie es uns beliebt – welche Folgen es auch für uns habe – ohne von unserem Mitwesen verhindert zu werden, solange wir sie nicht schädigen, gleichviel, ob sie unser Tun für töricht, verkehrt und unrecht halten. Drittens, von dieser Freiheit jedes Einzelwesens folgt innerhalb derselben Grenzen die Vereinsfreiheit, die Freiheit, sich zu irgendeinem Zwecke, der andern nichts schadet, vereinen zu dürfen, wobei vorausgesetzt ist, dass die Vereinten mündig sind und weder durch Zwang noch durch Betrug dazu veranlasst wurden.
Keine Gesellschaft, in der diese Freiheiten im Ganzen und Großen nicht geachtet werden, ist frei, welche Form von Regierung sie auch haben möge, und keine ist vollkommen frei, in welchen sie nicht bedingungslos und unbeschränkt vorhanden sind. Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, ist die, in der wir unser Bestes auf unsere eigene Weise erstreben können, solange wir dabei den andern ihr Bestes nicht zerstören oder sie in der Erlangung dessen verhindern. Jeder ist der eigene Hüter seines Wohles, möge dieses Leib, Geist oder Gemüt betreffen. Die Menschheit hat einen größeren Gewinn, wenn sie jeden nach seinem Gutdünken leben lässt, als wenn sie jeden zwingt, nach dem Gutdünken der andern zu leben.
Obgleich diese Lehre nichts weniger als neu ist und manchen als Gemeinplatz erscheinen mag, so gibt es doch keine Lehre, die der allgemeinen Neigung der vorhandenen Meinungen und Gewohnheiten entschiedener gegenüber stände. Die Gesellschaft hat in dem Versuche, (ihrer Erkenntnis gemäß) die Leute nach dem Begriff ihrer persönlichen wie ihrer gesellschaftlichen Vorzüglichkeit zu formen, gleichviel Bemühungen aufgewandt. Die alten Staatsgebildeten hielten sich für berechtigt, das Privatleben nach allen Richtungen hin zu regeln, weil der Staat ein starkes Interesse für die körperliche und geistige Erziehung jedes seiner Bürger habe, und die alten Philosophen stimmten diesem Grundsatz zu. Diese Denkweise mag vielleicht in kleinen, von mächtigen Feinden umringten Republiken zulässig gewesen sein, die in der·steten Gefahr schwebten, durch Angriffe von außen oder inneren Unruhen zu verderben, und denen selbst eine vorübergehende Abschwächung der Kräfte und der Selbstbestimmung leicht so verhängnisvoll werden konnte, dass man sich auf die heilsame nachhaltige Wirkung der Freiheit nicht verlassen konnte. In der neueren Welt hat die bedeutendere Größe der Staaten und vor allem die Trennung von geistiger und weltlicher Macht (wodurch die Leitung des menschlichen Gewissens in andere Hände gelegt wurde als in die, welche des Menschen weltliche Angelegenheiten beaufsichtigen) eine so große gesetzliche Einmischung in die Einzelheiten des Privatlebens verhindert. Aber die moralischen Zwangsmittel wurden hier noch entschiedener angewandt, mehr noch bei einer Abweichung von der herrschenden Meinung in eigenen als in sozialen Angelegenheiten. Die Religion, das mächtigste Element, das auf die Bildung des sittlichen Gefühls eingewirkt hat, wurde fast überall entweder von dem Ehrgeiz einer Hierarchie, die sich die Aufsicht über jeden Teil der Lebensführung anzueignen versuchte oder von dem Geist harter Sittenstrenge beherrscht. Einige von den neuzeitigen Reformern, die sich im entschiedensten Gegensatz zu den Religionen der Vergangenheit stellten, sind in ihren Ansprüchen auf das Recht einer geistigen Beherrschung keineswegs hinter den Kirchen oder Sekten zurückgeblieben. Dies gilt besonders von A. Comte, dessen in »Système de Politique Positive« entwickeltes Gesellschaftssystem die Herstellung (wenn auch mehr durch sittliche als durch gesetzliche Mittel) einer Zwangsherrschaft der Gesellschaft über das Einzelwesen erstrebt, welche das politische Ideal des strengsten Zuchtmeisters unter den alten Philosophen noch um vieles übertrifft.
Abgesehen von den besonderen Ansichten individueller Denker, ist aber in der Welt überhaupt eine wachsende Neigung vorhanden, die Macht der Gesellschaft über das Einzelwesen sowohl im Wege der öffentlichen Meinung wie auch durch die Gesetzgebung ungebührlich auszudehnen. Und da alle in der Welt vorgehenden Veränderungen die Neigung haben, die Gesellschaft zu stärken und die Macht des Einzelwesens zu verringern, so gehört dieses Übermaß keineswegs zu denjenigen Übeln, die leicht von selbst verschwinden, sondern es wächst im Gegenteil immer gefährlicher heran. Die Neigung der Menschen, ihre Meinungen und Absichten andern entweder als Herrscher oder als Mitbürger zur Lebensregel zu machen, wird von einigen der besten und einigen der schlechtesten Gefühle, die in der menschlichen Natur vorhanden sind, so kräftig unterstützt, dass sie durch kaum etwas anderes als durch Mangel an Macht niedergehalten werden kann. Und weil nun diese Macht nicht im Abnehmen, sondern im Zunehmen ist, so müssen wir erwarten, dass, falls nicht gegen dieses Missgeschick eine starke Schranke sittlicher Überzeugung errichtet wird, unter den gegebenen Umständen eine weitere Vermehrung eintreten werde.
Es wird der Beweisführung zu statten kommen, wenn wir uns, statt auf die These im Allgemeinen einzugehen, vor allem auf einen ihrer einzelnen Zweige beschränken, wobei das hier festgestellte Prinzip von der herrschenden Meinung, wenn auch nicht ganz, so doch bis zu einem gewissen Punkte anerkannt ist. Dieser Zweig ist die Gedankenfreiheit, von der sich die verwandte