Wien. Ludwig Hirschfeld
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Und schließlich fing die Sache an, mir stellenweise Spaß zu machen. Es ist ja etwas komisch, wenn man sich einer Stadt, in der man seit soundsovielvierzig Jahren zu Hause ist, plötzlich aufmerksam und interessiert nähern soll. So als ob man nach zehn Ehejahren wieder in seine Frau frisch verliebt ist und ihr den Hof macht. Ist auch nicht das Ärgste. Es kann sogar sehr nett sein. Während ich alle Kreise des Wiener Lebens durchwanderte, lernte ich selbst alles noch einmal kennen, staunte über Neues und machte allerlei Entdeckungen. Unter anderen auch die, was für eine merkwürdige, reizvoll gemischte Stadt dieses Wien ist, wie leicht und schwer, wie selbstverständlich und kompliziert ihr Wesen. Und auch die Entdeckung: dass ich wahrscheinlich nirgendwo anders leben möchte, leben könnte, als hier, wo das Leben oft so unerträglich ist.
Was mich aber am meisten an diesem Buche gereizt und interessiert hat, das war die Aufgabe: einmal jenes Wien zu zeigen, das nicht im Baedeker steht und in den sonstigen Handbüchern der Schlagworte und Redensarten. Denn über keine andere Stadt der Welt sind so viele Schlagworte und Redensarten im Umlauf. Nette und anerkennende: alte Kultur, weiche, lässige Grazie, Zauber des Barocks, Musik in der Luft, lächelnde Anmut der Frauen … schrecklich, wenn man das, so wie ich, seit Jahren immer wieder anhören und lesen muss. Und die geringschätzigen Redensarten: unseriös, unsachlich, spielerisch, arbeitsscheu, charakterlos. Das mag alles noch so richtig und falsch sein, egal. Aber warum steht in allen Büchern und Betrachtungen über Wien nie etwas anderes? Nicht eine Ahnung, eine Andeutung, dass es außer dieser überlieferten Redensartenstadt doch noch ein anderes Wien gibt, ein wirkliches, lebendiges, gewöhnliches, mit Menschen, die alle diese Redensarten längst ausgewachsen haben, wie ein großer Bub seine Anzüge. Und wenn ich nur dieses eine getroffen habe: durch das von Schlagworten und Redensarten verrammelte Baedeker-Wien hindurchzukommen zum wahren Wien, wenn ich dem Fremden nur einen ungefähren Begriff davon gebe, wie wir, ohne Reisepedanterie, ohne Literatur und Schmockerei gesehen, tatsächlich und tagtäglich sind, dann ist mir dieses Buch nicht ganz danebengelungen.
Aber immer allein umhergehen und allein in Lokalen sitzen, das habe ich nicht ausgehalten. Darum habe ich mir eine nette Begleitung gesucht und erfunden, und das sind Sie, mein Herr Leser und Sie, meine Frau Leserin. Sie sind zwei Fremde, die zum ersten Mal nach Wien kommen. Ein Herr und eine Dame, die gar nicht zusammengehören, aber ich, der Autor, habe mir erlaubt, Sie beide für die Dauer dieses Buches ein bisschen miteinander zu verheiraten. Welchen Gebrauch Sie davon machen, das geht mich nichts an, auch nicht, ob Sie nach der letzten Seite sofort gehässig auseinandergehen, was ja heutzutage in den glücklichsten Ehen vorkommt. Die Hauptsache ist, dass wir uns bei dieser Wiener Wochenehe zu dritt viel leichter tun werden: beim Spazierengehen, beim Anschauen und Unterhalten. Der Herr Gemahl interessiert sich mehr für die seriösen Dinge: Kunst, Technik, Wirtshäuser, und die gnädige Frau wieder für die leichteren, vom Einkaufen bis zum Tanzen. So gehen wir einmal zu dritt, dann wieder zu zweit und werden uns herrlich vertragen. Manchmal aber gehe ich auch ganz allein: wenn ich ein bisschen empfindsam werden will oder ausfällig. Das wird sich schwer vermeiden lassen. Ein bisschen Gereiztheit, Ironie und Skepsis darf in einem Buch über Wien nicht fehlen, sonst wäre es nicht echt.
Über Wien kann man nur unpathetisch schreiben, mit einem lächelnden und einem nörgelnden Auge. Auch auf diese Art kann man von einer Stadt begeistert und in sie verliebt sein. Und vielleicht ist es nicht einmal die schlechteste Art. Wer wirklich liebt, singt keine Liebeslieder.
Wien, Faschingssonntag 1927
Ludwig Hirschfeld
DIE ANKUNFT
Erster Eindruck beim Bahnhof. – Gepäckrevision. – Der Träger. — Umgang mit dem Autotaxichauffeur.
Die Ankunftsseite sieht fast in einer jeden Großstadt so aus wie in der anderen. Es ist also ganz egal, auf welchem Bahnhof Sie in Wien ankommen, Westbahnhof, Südbahnhof, Ostbahnhof, Nordbahnhof oder Franz-Josefs-Bahnhof, es ist überall ungefähr dasselbe. Am nettesten ist vielleicht noch die Ankunft auf dem Südbahnhof, weil er nicht, wie die anderen Bahnhöfe, mitten im nüchternsten und grauesten vorstädtischen Milieu liegt, sondern am Rande des eleganten vierten Bezirkes Wieden. Hier hat man auch den schönsten ersten Eindruck. Ob Sie durch die Prinz-Eugen-Straße stadtwärts fahren oder durch die Jacquingasse, überall präsentieren sich Ihrem Blick sofort die besten Wiener Eindrücke. In der Prinz-Eugen-Straße die patinierten Dächer des Belvedere, des Schwarzenbergpalais, dessen weitläufigen alten Park Sie hinter der langen Einfassungsmauer nur ahnen, und auf der linken Seite schöne Privatpalais, vor allem das feierliche Palais der Familie Rothschild. Vor dieser hohen Gartenmauer mit dem abweisend fest verschlossenen Tor hat man den Eindruck: Hier wohnt das Geld … Die Jacquingasse ist vielleicht noch schöner, noch eleganter. Hier ist fast jedes Haus ein aristokratisches oder patrizisches Palais, und alle haben die wundervolle Aussicht auf den botanischen Garten. Hier steht auch, dem Blick kaum erreichbar, die neue Villa Richard Strauß. Der wertvolle Grund wurde ihm bekanntlich vom Staate gewidmet, um ihn mit der Wiener Oper zu versöhnen, und der Wiener Witz sagte damals: Richard Strauß hat jetzt Grund, in Wien zu bleiben … Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, dann, bitte, kommen Sie mit der Südbahn an, denn dann werden Sie beim ersten Blick sagen: Wien ist doch eine entzückende Stadt.
Vorläufig stehen wir aber noch auf dem Ankunftsperron und haben die üblichen Hindernisse zu absolvieren. Vor allem rufen Sie mit kräftiger Stimme: »Träger!« Sie tragen blauweiße Kittel, aber bei den stark besetzten Fernzügen ist ihre Zahl meistens zu gering. Der Träger spricht die Landessprache, nämlich heftigen Wiener Dialekt, dessen Beherrschung man in Wien bei allen Fremden voraussetzt. Wenn er fragt: »Habns a großes a?«, so meint er damit das große Gepäck. Das Ausladen aus dem Gepäckwagen und die Beförderung in die Revisionshalle dauert immer eine gute Weile, weshalb sich auch Dienstmänner und Fuhrwerker zur Auslösung und zum Transport anbieten. Aber sicher ist sicher, und wenn Sie es nicht sehr eilig haben, dann warten Sie lieber auf Ihr Gepäck und nehmen es selbst per Auto mit. Die Zollrevision durch das Finanzkontrollorgan ist unvermeidlich, aber nicht bösartig. Wenn Sie sich beim Träger danach erkundigen und wenn Sie Glück haben, wird er Sie mit den selbstbewussten Worten beschwichtigen: »Wanns mit mir kommen, geht’s tadellos. Heut hat a meiniger Bekannter Dienst.« Woran Sie gleich erkennen, wie einfach das Wiener Leben ist, wenn man Beziehungen hat.
»Zwa Schilling – aber, gnä Herr!«
Da Sie zahlungsfähig aussehen, wird der Träger Sie ganz von selbst zu einem Autotaxi führen. Es gibt zwar noch immer Fiaker, Einspänner und Dienstmänner, aber sie sind alle im Aussterben begriffen und stellen überraschende Forderungen, wenn man sie in dieser Beschäftigung stört. Bevor Sie Ihr Gepäck aufladen lassen, überzeugen Sie sich, ob es ein teures oder ein billiges Taxi ist, was man an der Aufschrift »80 g« oder »5o g« erkennt. Falls Sie kein amerikanischer Kupferkönig sind, lehnen Sie das teure Taxi kaltblütig ab, auch wenn der Chauffeur Sie daraufhin in wilder Weise bis ins vierte Glied verfluchen sollte. Keine Angst, er meint es wirklich so, und außerdem steht in der nächsten Nähe ein Wachmann, der sich nicht darum kümmert, da er die Nummern der Wagen aufschreibt. Aber auch der billige Chauffeur hat seine Vorurteile. Selbst wenn Sie bloß mit einer Zigarrenschachtel ankommen, wird er sie unbedingt neben sich platzieren wollen, weil ihm dies den Gepäckzuschlag einträgt. Ferner hat er als Lokalpatriot die Neigung, Ihnen auf dem größten Umweg halb Wien zeigen zu wollen. Die Frage »Wie viel macht’s