Die Suche hat ein Ende. Mario Walz
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In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es eine kurze Periode filmischen Schaffens, in welcher außerirdisches Leben positiv dargestellt wurde. In den folgenden Jahren änderte sich die Botschaft dieser Filme. Die Wesen aus anderen Welten wurden immer öfter als böswillige Biester dargestellt, welche nur die Zerstörung und Unterdrückung der Menschheit im Sinne hatten. Doch jene positiv gestimmten Filme sprachen das Herz das jungen Mario so sehr an, dass die Gewissheit in mir reifte, dass da draußen mehr Leben existiert, als wir ahnen.
Ich erinnere mich gut an »Die unheimliche Begegnung der dritten Art«. Mir war, als ob Richard Dreyfuss mein Alter Ego darstellte. Die Geschichte des Films und die darin gezeigten Gefühle empfand ich als ein Teil meiner Erinnerung oder meiner Hoffnung. Es war, als öffnete sich ein Tor in mir. Welches mich in eine Welt einlud, die ich bislang nicht wahrnehmen konnte. In mir wuchs ein Gefühl – nein: ein Wissen – über etwas Wahres, das ich nicht mehr ablegen konnte, das mir durch keine Wissenschaft oder verstandesgemäßes Denken weggenommen werden konnte. Ein bislang stummes Wesen erwachte in mir, etwas Unfassbares, das ich nicht greifen konnte.
In den folgenden Jahren, in welchen ich meine menschlichen Verpflichtungen und Identitätssuche weiterlebte, reifte parallel die Gewissheit über eine alles verbindende Kraft, jenseits des bärtigen weißhaarigen Mannes namens Gott. Die Grundsteinlegung einer tief greifenden Transformation begann mit der selbst gewählten Isolation in Amsterdam.
Es ist Königinnentag.
Die ganze Stadt ist auf den Beinen und Tage zuvor schon sind die Vorbereitungen zu spüren. Schon seit Mitternacht schieben sich laut lachende Menschengruppen durch die Straßen, welche die geschmückten Grachten säumen. Bekiffte und angetrunkene Touristen hängen in den Straßencafés, entweder voller Tatendrang oder schon so weit neben sich, dass sie die Freude und den Spaß in der Atmosphäre gar nicht mehr wahrnehmen.
Ich habe natürlich frei, heute arbeiten nur die, welche den immensen Durst und Hunger der Feiernden bedienen. Meine Arbeit in Amsterdam in einem Designbüro ist sowieso nur ein Vorwand. Es ist mir wichtiger vor Ende des Studiums einmal die Erfahrung einer fremden Stadt und einer fremden Sprache zu erleben. Es waren nicht die Drogen, die mich hierher führten. Es ist eher die Freiheit, die ich hier atme. Das Zusammenspiel zweier komplett entgegengesetzter Kräfte. Dunkelheit neben Friedfertigkeit. Es ist absolut faszinierend, diese Energien hier wahrzunehmen. Zu spüren, welche Gefühle in mir dabei aufkommen.
Einerseits die Angst, wenn ich nachts in einsamen Straßen mehreren stumm daherlaufenden Männern begegne. Oder wenn sich laut hallend Schritte den Weg durch die engen Gassen bahnen, die ich zu Fuß durchwandern muss, weil mir wieder mal das Fahrrad gestohlen wurde. Andererseits die Freiheit. Sie weht mit dem starken Wind aus Westen an den windschiefen Häusern vorbei, die sich aneinanderklammernd der Zeit zu widersetzen versuchen. Durch die Grachten bewegt sie sich, in den dort lebenden Menschen leuchtet sie. Eine herrliche Widersprüchlichkeit, ein beständiges auf und ab im Erleben. Hier findet man alles. Dunkel steht neben hell. Verrucht steht neben glamourös. Ein freies, wildes Dasein.
Hier komme ich her um mich zu erfahren, in der Tiefe meines einsamen Seins. Fern ab von Ablenkung und Freunden, fernab allem Bekanntem. Allein in einer Stadt, in der alles möglich ist. In einer Welt, die mir den Freiraum zur eigenen Entfaltung gibt.
Interessanterweise ist es Petra, die mich an diesen Tagen besucht, was mich trotz des Genießens und Eintauchens in den Schmerz des poorlonesomecowboysonalongwayfromhome sehr freut. Wir streichen durch die vollen Gassen mit den anderen Menschen, haben unseren Spaß und genießen die Frühlingswärme.
Der Abend bricht herein. Als wir wieder über die schulterbreite Treppe in dem dunklen nach Katzenpisse stinkenden Flur in meiner Dreimonatwohneinheit angelangt waren, hat der Alkohol seine Spuren in unserem Bewusstsein hinterlassen. Wir führen unsere typische Zweiwochenbeziehung durch und der Abend endet in erschöpfter Gelassenheit mit recht beachtlichem Verlust des klaren Denkens. Ein Tag der intensiven Gefühle.
Dem Zustand entsprechend bin ich mir nicht mehr im klaren, was und wie es sich abgespielt hat. Ich weiß nur, dass ich neben all den alten Energien und den bis dato unbeachteten, nicht sichtbaren Mitbewohnern eine Stimme wahrnehme, die durch mich spricht. Es sind nicht meine Worte und ich bin mir nicht bewusst, was ich da sage. Aber ich fühle eine Verbundenheit mit etwas großem, das hier in mir zu existieren scheint. Als ob der am Himmel thronende Mond herabgestiegen sei, um mir ein wegweisendes Licht in der Dunkelheit zu sein.
Petra weint, auch sie erfährt eine Öffnung im Raum, die nicht zu beschreiben ist. Das Weitere versinkt im Dunkel der Nacht.
Ich wache auf und erkenne mich nicht wieder. Es ist nicht der Kater oder eine sonstige Nachwirkung der gestrigen Feier. Ich bin grundlegend anders. Ich bin mehr geworden, größer, weiter, klarer. Ein lang verschlossenes Tor wurde geöffnet und ich schaue in einen noch unerleuchteten Saal. Wissen fließt nebelgleich um meine Knöchel. So dicht, dass es die Haare an meinen Beinen wehen lässt, aber ich kann es noch nicht lesen. Ich kann es nicht begreifen. Ich sehe nur, wie der nicht enden wollende, warme Wind der Gewissheit aus diesem großen, aber noch dunklen Saal herausströmt. Wie er versucht, in mich einzudringen. Nein! Wie ich versuche, ihn aufzunehmen. Wie ein Verdurstender das Wasser sucht.
Der Tag beginnt. Alles scheint wie zuvor, als hätte sich nichts verändert. Wäre da nicht dieses große Feld, das mich fortan umgibt. Ein Feld von unbenutztem Wissen. Ein weltengroßes Buch, das gelesen sein will. Ein weiteres Ich, das mir folgt, mich anschubst und mir neue Gedanken schenkt. Die folgende Zeit ist ungreifbar anders als zuvor. Die Traurigkeit in mir ist noch immer da, doch scheint aus dem Grunde des tiefen Brunnens ein Schimmern hervorzuquellen. Ein mit der Laterne winkendes Etwas, das mich hinein lockt in die Tiefe meiner Gefühle. Ich hab nichts zu verlieren und folge.
Was auch immer an diesem Tag passierte, meine Welt ist anders geworden. Als ich wieder zurück in Deutschland mein Studium fortführen will, begegnen mir Menschen, die ich zwar schon kannte, mir aber nie nahe waren. Sie bringen mir Botschaften, Ideen, Gedanken und weiterführende Literatur. Ich beschreite den Weg des Adepten. Nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal in dieser Inkarnation.
Alles, was ich lese, erkenne ich wieder. Mir zittern die Glieder, als ich die Wahrheiten erkenne, die sich mir plötzlich eröffnen. Ich atme jeden neuen Gedanken tief in mich ein. Wissend, dass dies nur der Anfang eines Weges ist, dessen Ende ich noch nicht beschreiben kann, der aber den Sinn meines Daseins bedeutet. Ich forsche und denke nach, meine Studien beziehen sich in alle erdenklichen Richtungen des menschlichen Daseins. Um das Menschsein genau zu verstehen, gehe ich nicht nur den Weg der esoterischen Betrachtung, sondern auch die Einbezugnahme psychischer Untersuchungen der Wissenschaft.
Ich bin ein Schwamm ohne begrenztes Fassungsvermögen. Es ist, als würde ich mich selbst wiederentdecken, so als ob ich alles, was ich bin, erst noch einmal von unten her betrachten müsste, um den kompletten Überblick zu bekommen.
Dass sich diese Veränderung auch auf mein Studium auswirkt, bleibt nicht aus. Das Erfinden neuer Schnitte und Moden erfüllt mich nicht länger. So nutze ich meine Talente und Begabungen, um mir wichtig gewordene Themen zu bearbeiten und in dreidimensionale Körperlichkeit umzusetzen. Meine erste Arbeit beschreibt meine Auseinandersetzung über das Phänomen der Gegensätzlichkeit, das YIN und YANG. Ich schreibe, male und entwickle die Kostüme dazu. Eines aus hartem, glatten, glänzenden Blech, das mich bei der Bearbeitung im wahrsten Sinne des Wortes viel Blut und Schweiß kostet. Das andere eine unförmige, weiche, rotmatte Körperummantelung, welche sich durch die Bewegung verändert. In der Drehung verliert das »weibliche« Kostüm an Gewicht und tanzt um den Träger herum, während das steife, »männliche« Kostüm starr und schier unbeweglich seines Weges über den Laufsteg zieht.