Der Mitläufer. Wolfgang Mock

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hatte keinen dabei. Nicht einmal meinen neuen Studentenausweis.

      Die mit Ausweisen konnten gehen, die ohne wurden im Gänsemarsch zur Wache gebracht, die nur ein paar Schritte entfernt lag. Schweigend lief ich neben einem Typ in Jeans und schwarzer Jacke her, kurze Haare, Bart um Kinn und Oberlippe. Er fiel schon ein bisschen ab, verglichen mit mir: weiße Hose, Plateausohlen und die ausrangierte Persianerjacke meiner Großmutter.

      Auf der Wache hockten wir uns auf die verfügbaren Bänke, der Typ mit dem Bärtchen setzte sich neben mich und zog ein zerlesenes rotes Suhrkamp-Bändchen mit Gedichten aus der Tasche. Ich schaute ein paarmal unauffällig zu ihm rüber, bis ich den Titel entziffern konnte: Die Verteidigung der Wölfe von Enzensberger.

      Ich holte mein Zigarettenetui hervor, steckte mir eine Zigarette in den Mund und bot ihm eine an. »Ist nichts drin, nur Chesterfield.«

      Bevor er zugreifen konnte, fiel ein Schatten über uns, ein Polizist riss mir die Zigarette aus dem Mund und das Etui aus der Hand. Ich schoss in die Höhe, der Typ neben mir fiel mir in den Arm, bevor ich zuschlagen konnte, drückte mich wieder auf den Sitz. Unversehens war es still geworden in der Wache. Alle schauten zu uns herüber.

      »Der reine Bullenterror«, sagte eine Stimme in die Stille hinein.

      Der Polizist stand vor uns und schien darauf zu warten, dass ich mich doch hinreißen ließe, aber der Typ, der um einiges kräftiger war als ich, hielt mich fest, bis der Polizist zurück zu seinen Kollegen ging.

      »Danke«, sagte ich und zog meine Persianerjacke aus. Ich zitterte vor Wut. Wortlos hob ich den Enzensberger-Band auf, der runtergefallen war, und blätterte ihn durch.

      »Lyrik ist so gar nicht mein Ding.«

      »Beruhigt aber«, gab er zurück. Leicht von oben herab, wie ich fand.

      Ich betrachtete den zerfledderten Band.

      »So sieht bei mir zu Hause das Kommunistische Manifest aus«, sagte ich. Er schaute mich an, mit seinem Bart sah er schon nach Landei aus. Und das mit dem Kommunistischen Manifest schien ihn zu schockieren. Ich grinste.

      »Wir haben einen Hund. Der liebt das Buch.«

      Verunsichert hatte ich ihn schon.

      »Frank«, sagte ich nach einer Weile.

      »Alexander«, antwortete er und reichte mir die Hand. Also doch ein Landei.

      Klar, dass sie uns stundenlang warten ließen. Steckten Betrunkene in Ausnüchterungszellen, nahmen Anzeigen von Bestohlenen auf, ein Auge dabei immer in unsere Richtung. Zwischendurch notierten sie unsere Namen, dann wieder nichts.

      So gegen drei Uhr, als die Ersten von uns aneinandergelehnt eingeschlafen waren, bauten sich zwei Polizisten vor uns auf. »Kann Sie jemand abholen und Ihre Identität bestätigen?«

      Ich sah, wie Alexander den Kopf schüttelte, und sagte schnell: »Ja, klar, meine Mutter. Sie kennt dich doch auch.« Und gab dem Polizisten unsere Telefonnummer. Mein Vater, welch ein Glück, war auf Dienstreise.

      Eine halbe Stunde später tauchte meine Mutter auf, in ein schwarzes Cape gehüllt, die Locken einwandfrei; unfrisiert verließ sie nie das Haus. Trotzdem sah man ihr an, dass halb vier Uhr morgens nicht ihre bevorzugte Zeit war. Sie hatte uns sofort gesehen, ich zeigte auf den Typ neben mir und sagte: »Alexander kennst du ja.« Sie verdrehte die Augen, reichte einem der Polizisten ihren Ausweis, schob das Kinn in Richtung Alexander und sagte: »Den nehmen wir auch mit.«

      »Sie kennen ihn?«

      »Seit ewig.«

      Der Polizist reichte ihr mein Zigarettenetui und den Ausweis und straffte sich. »Wir haben die beiden in einem Lokal aufgegriffen, in dem, wie wir vermuten, mit Drogen gehandelt wird. Nimmt Ihr Sohn Drogen«?

      »Soweit ich weiß, nicht«, sagte meine Mutter, laut genug, dass es alle hören konnten, »aber das kommt sicher noch. Es wäre der erste Blödsinn, dem er aus dem Weg ginge.«

      Als wir die Wache verließen, wandte ich mich noch einmal um. Irgendwann würde ich denen allen den Arsch aufreißen und sie in Angst und Schrecken versetzen. Und ich sah das Bild von Ulrike Meinhof vor mir und das von Andreas Baader.

      Schließlich standen wir in der frischen Nachtluft vor dem VW Käfer meiner Mutter.

      »Lass uns Kontakt halten. Ich fange in diesem Semester hier an der Uni an«, sagte Alexander.

      »Das passt. Ich auch.«

      Er gab meiner Mutter die Hand. »Danke.«

      Wir stiegen in den VW und fuhren los, ich sah ihn im Rückspiegel unschlüssig auf der Straße stehen, rief »Halt mal!«, und meine Mutter trat mit einem »Dachte schon, du lässt ihn mit Absicht auf der Straße stehen« auf die Bremse. Ich sprang raus.

      »Wo musst du eigentlich hin?«

      »Nach Benrath.«

      »Ja dann.« Ich zeigte auf den Rücksitz.

      Alexander stieg ein.

      Achtundsechziger und so

      Das unnatürlich schwüle Hoch hing seit Tagen wie eine Glocke über der Republik, und ein Ende der Hitze war, glaubte man den Wetterpropheten, nicht abzusehen. Mal milchiger Himmel, mal ein, zwei Wolken, morgens vor allem Kondensstreifen. Am Tag über dreißig Grad, nachts kaum kühler.

      Mit geschlossenen Augen blieb Meta im Bett liegen, der Vorhang hielt die Mittagssonne aus dem Zimmer. Nur am Rand fiel etwas Licht in das Halbdunkel. Benommen schob sie den Arm des Jungen von ihrem Bauch.

      Die Menschen waren nicht zu halten bei diesem Wetter, holten alles aus den Tagen und Nächten raus. Sie sah ihnen dabei zu, es waren gute Nächte für sie, es wurde viel getrunken. Wer keinen Platz an einem Tisch fand, saß auf dem Bordstein oder einer Bierkiste. Wen der Alkohol lauter werden ließ, der wurde von den Gästen flüsternd zurechtgewiesen, um die Nachbarn, die hinter weit geöffneten Fenstern Schlaf suchten, nicht zu stören.

      Abend für Abend besuchte Meta mit dem Fahrrad ihre drei Lokale. Sie liebte es, wenn die Hitze des Tages aus dem Asphalt aufstieg; ihr war dann, als könne sie fliegen. Vielleicht nicht bis zu den Sternen, aber doch bis zu den Warnleuchten oben auf den Pfeilern der Rheinbrücken.

      Sie beobachtete ihre Kellnerinnen, die sich wie nachtaktive Echsen durch die Menschen schlängelten. Nur selten machte sie eine Bemerkung; es lief von selbst, nicht ohne Grund hatte sie in diesem Geschäft so lange überlebt. Und das besser als die meisten. Sie trank keinen Alkohol mehr, nur ab und zu rauchte sie mit Freunden ein wenig Gras. Espresso war die einzige Droge, die ihr geblieben war. Dafür machte sie jetzt regelmäßig Urlaub in der eigenen Sechs-Zimmer-Finca am Hang bei Selva. Vor Jahrzehnten hatte sie schon einmal am Fuß dieses Hangs gestanden und sich gedacht, es müsse schön sein, dort oben zu wohnen. Das war das Einzige, woran sie sich nach Wochen Alkohol und Sex auf Mallorca noch erinnern konnte. Daran und an Alexander, mit dem sie zusammen auf die Insel geflogen war und mit dem sie sich dauernd gestritten hatte.

      Sie hörte das leise Atmen des Jungen neben sich. Bisweilen verlangte die Hitze der Nacht ihren Tribut. Daran hatte das Alter nichts geändert. Jetzt kam noch dazu, dass sie

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