Der Mitläufer. Wolfgang Mock

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ließ die Jalousien herunter, zu grell war das Sonnenlicht. Aber es half nichts, sie konnte sich nicht konzentrieren, zwei Projekte, jede Menge Arbeit lagen vor ihr, doch es ging nicht.

      Chrissie zog die Karte unter dem Glasdiamanten hervor. Sie war der Schlussstrich unter den letzten Monaten, als sie sich um Alexander gekümmert hatten und sich zeitweise so nah waren wie vor fast vier Jahrzehnten.

      »Das Leben ist eine ewige Gegenwart.« Das hatte Meta gern gesagt. Für ein paar Jahre schien ihr das richtig, damals, als sie so gut wie unsterblich waren, da hätte sie diesen Satz unterschrieben. Auch danach noch, als sie die Wohngemeinschaft verließ. Bis sie Nicki, ihr zweites Kind, verlor, kurz nach der Geburt. Danach war Schluss mit Unsterblichkeit.

      Chrissie räumte die Seminarkonzepte und Tabellen zur Seite, blickte auf die Uhr, etwas Zeit war noch.

      Die Beerdigung würde der endgültige Abschied von Alexander sein. Fast ein halbes Jahr hatte sich dieser Abschied hingezogen. Ihr war dabei eine unerwartete Rolle zugefallen und sie war sich überrumpelt vorgekommen.

      Sie sah die junge Frau noch vor sich, wie sie in ihrem Büro aufgetaucht und unangekündigt in ein Meeting geplatzt war. Sie hatte sie bitten müssen zu warten, spürte aber, dass sie nicht mehr bei der Sache war, und beendete das Meeting schnell.

      »Chloe«, sagte die Frau, als Chrissie aus dem Besprechungszimmer kam, und, als Chrissie nicht reagierte: »Chloe. Alexanders Tochter«. Blond, schlank, modisch gekleidet, die Beine übereinandergeschlagen, etwas Unberechenbares lag in ihren Augen, unterdrückte Aggressivität ging von ihr aus. Alexander, erzählte sie, gehe es sehr schlecht, ein rapide zunehmendes Lungenversagen, er könne das Bett kaum noch verlassen, wolle aber um keinen Preis ins Krankenhaus. Ob sie, Chrissie, und die anderen Alexander denn mal besuchen würden? Er würde sich freuen, auch wenn er es nicht zeigte.

      Nach all den Jahren. Einfach so. »Hast du schon mit den anderen gesprochen?«, erkundigte sie sich nach einer Weile, während der sie einander betrachtet hatten, Chloe mit einer Kälte, die schon unhöflich wirkte. Sie will nicht als Bittstellerin kommen, vermutete Chrissie.

      »Nein. Wie ich meinen Vater verstanden habe, bist du damals als Erste aus der Wohngemeinschaft ausgezogen. Ich dachte mir, wenn du zusagst, können Meta und die anderen nicht ablehnen.« Mit Meta war Alexander immerhin verheiratet gewesen.

      So hatte sie zugestimmt, obwohl noch der Moment kam, als sie fast ihre Zusage zurückgenommen hätte. Ein paar Worte hatten sie gewechselt. Sie war neugierig geworden angesichts der Phillip-Lim-Handtasche, die unter Chloes Stuhl stand. Doch Fragen, womit sie ihr Geld verdiene, war Chloe ausgewichen. Selbst bei der Frage, ob Alexander denn von ihrem Vorhaben wisse, blieb sie vage, nahm unvermittelt fünf Paar Schlüssel aus der Handtasche und reichte sie Chrissie. »Mein Vater kann das Bett nicht mehr verlassen. Außerdem geht er nicht mehr ans Telefon. Der Schlüssel mit dem runden Kopf ist für die Wohnungstür, der eckige für den Hauseingang.« Die Adresse stand auf einem kleinen Schlüsselanhänger.

      Von ihrer Assistentin hatte sie sich die Telefonnummern heraussuchen lassen, dann Meta, Doris und Thomas angerufen. Bei Frank hatte sie gezögert, und es hatte gedauert, bis sie ihn in seiner Redaktion erreichte. Als er abhob, war seine Stimme kühl, ablehnend, man spürte die Routine, die er im Abwimmeln von Menschen besaß.

      Aber dann.

      »Chrissie, bist du das?« Fast ein Jubelschrei.

      Über eine Stunde telefonierten sie, kramten in Erinnerungen. Kein einziges Wort darüber, dass sie ihn damals verlassen hatte, Hals über Kopf aus der Wohngemeinschaft ausgezogen war.

      »Schön, dass du angerufen hast. Hat mich wirklich sehr gefreut. Sehr«, hatte Frank gesagt, bevor sie auflegten.

      Wie die anderen, so war auch Frank einverstanden gewesen. Seitdem hatten sie Alexander in regelmäßigen Abständen besucht, an seinem Bett gesessen, ihm Geschichten erzählt und seinem rasselnden Atem und dem Schnaufen der Beatmungsgeräte zugehört.

      Bis zu seinem Tod. Der zwar abzusehen war, sie dann aber doch überraschte. Er hatte etwas Unvermitteltes gehabt. Am nächsten Tag hätte Alexander ins Krankenhaus kommen sollen.

      Chrissie schloss die Bürotür hinter sich, lief die Treppe zu ihrer darüber liegenden Wohnung hinauf und zog sich um. Obwohl die Hitze durch die offenen Fenster der kleinen Villa drückte, war ihre Haut völlig trocken. Sie liebte die Hitze, so wie sie Schnee und Kälte mied. Ihre Haare waren dicht und gelockt wie vor vierzig Jahren, nur fast weiß. Sie nahm einige schwarze Kleider aus dem Schrank, hielt sie vor den Körper, entschied sich schnell für eins mit weiten, halblangen Ärmeln, damit die Arme nicht so nackt waren auf dem Friedhof. Dabei fiel ihr Blick in das Dunkel des Schranks. Einen Augenblick zögerte sie, dann kniete sie sich hin, drückte die Jacken und Kostüme auseinander, verschwand mit dem Oberkörper zwischen ihnen und tauchte schließlich wieder auf, in der Hand ein Paar schwarze, hochhackige Schuhe mit enormen Plateausohlen. Klein wie sie war, hatten ihr die Schuhe ein Gefühl der Größe vermittelt, von Unbesiegbarkeit. Jahrzehnte schon hatte sie sie nicht mehr getragen, sie waren tückisch. Selbst nachdem sie so schwer damit umgeknickt war, dass sie zwei Monate einen Gips um ihren Knöchel tragen musste, hatte sie sich nicht überwinden können, die Schuhe wegzuwerfen. Noch heute schmerzte der Knöchel gelegentlich. Sie zog die Schuhe an, sie passten. Sie würde vorsichtig sein.

      Das Kleid über dem Arm, die Schuhe an den Füßen, ging sie ins Nebenzimmer, fuhr ihren Laptop hoch, schloss für einen Moment die Augen, atmete durch und begann, eine lange Mail an ihre beiden Söhne zu schreiben, eine Mail für beide, lieber Felix, lieber Marcus.

      Mit den Gedanken war sie nicht bei der Sache. Hin und wieder, was sie selbst überraschte, hatte sie sich nach dem Telefonat mit Frank und auch später noch, als sie sich bei Alexander über den Weg liefen, bei dem Gedanken ertappt, wie es wohl gewesen wäre, hätte sie ihn damals nicht verlassen. Wie es heute wäre mit Frank.

      Sie zog das Kleid über, schminkte sich und ging wieder hinunter ins Büro. Anne, ihre treueste Mitarbeiterin, wartete schon auf sie. Zügig gingen sie durch, was für heute anstand, vor allem die Beratungsangebote an eine Handvoll Startups und zwei Forschungseinrichtungen.

      »Die Schuhe sehen sexy aus«, sagte Anne, »Plateausohlen sind schwer im Kommen.«

      »Die stammen aus den Siebzigern.«

      »Neid«, lachte Anne.

      »Zu übertrieben für eine Beerdigung?«

      »Ach wo.«

      Chrissie nahm die Trauerkarte von ihrem Schreibtisch, schaute auf die Adresse des Friedhofs und verließ das Büro. Auf dem Weg durch den Vorgarten dachte sie noch, dass die Pflanzen Wasser brauchten. Als sie sich am Tor zu der kleinen Gründervilla mit ihrem Büro und ihrer Wohnung umwandte, war ihr einen Augenblick, als verabschiede sie sich von dem Haus. Dann verscheuchte sie den Gedanken, stieg in ihren Alfa, klemmte die Todesanzeige hinter die Sonnenblende und machte sich auf den Weg.

      Für einen Augenblick fragte sie sich, ob wohl Moretti auf dem Friedhof sein würde. Aber warum sollte er?

      Morgens um fünf

      Ich hatte mich gefreut, als Chrissie anrief. Wirklich gefreut. Nach so langer Zeit. Und ich war auch sofort dabei, als es um die Betreuung von Alexander ging. Obwohl ich mehr als genug Termine hatte. Aber ich war gern dabei. Nicht nur, weil ich so Chrissie wiedersehen konnte, auch wegen Alexander. Vor allem wegen Alexander.

      Ich blinzelte und hörte den Vögeln

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