Der Mitläufer. Wolfgang Mock
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Sie wurde erst wieder wach, als sie träumte, sie werde von einer Welle weggerissen, das Messer in der weit nach oben geschwungenen Hand. Sie versuchte, es in die Matratze zu stoßen, um von der Welle nicht fortgerissen zu werden, wobei schmerzhaft ein Fingernagel brach. Im Schlaf war sie zur Seite gekippt, lag jetzt, den Oberkörper rechtwinklig abgeknickt, im Bett, wie hingeworfen. Noch bevor sie sich aufrichtete, hielt sie eine Hand vor die Augen, um sich gegen das gleißende Licht zu schützen und gegen die Hitze, die wie eine träge, ölige, jeden Widerstand niederwalzende Flut durch die offene Balkontür hereinströmte.
Es ging ihr wirklich nicht gut.
Das Telefon vibrierte leise neben dem Bett. Die Ärztin, so früh?
Ihr Blick fiel auf die Uhr, dann auf die neben dem Bett liegende Todesanzeige. »Nein!«, schrie sie leise, und nochmal: »Nein«. Es war gleich zehn. In zwei Stunden würde Alexander beerdigt.
»Wie geht es dir?« Die beherrschte Stimme ihrer Ärztin.
»Ich schlafe schlecht.«
»Dein Blutbild ist einwandfrei. Vielleicht ein Hauch zu viel Cholesterin. Ist aber unwesentlich.«
»Ich kann das kaum glauben. Wenn du wüsstest, wie schlecht es mir geht. Manchmal brennt mir das Herz regelrecht.«
Worauf die Ärztin ihr in Erinnerung rief, dass sie das wiederholt besprochen hätten, mit dem Ergebnis, dass sie Doris bereits eine Therapeutin genannt hatte, eine sehr gute sogar. »Der würde ich mich selbst vorbehaltlos anvertrauen.« Und sie hätten, fuhr die Ärztin fort, schon eine gewisse Einigkeit dahingehend erzielt, dass sie, Doris, offenbar sehr unter dem Scheitern ihrer letzten Beziehung zu leiden habe.
»Das kann es doch nicht sein«, brauste Doris auf, entschuldigte sich aber sofort. »Ich meine nur, das ist nicht das erste Mal, dass ich mich von einem Mann trenne.«
»Aber solche Trennungen sind schmerzhafter, als sie mit vierundzwanzig waren. Man wird verletzlicher in deinem Alter«, sagte die Ärztin. Dann, nach einer kleinen Pause, »… unserem Alter«. Das Gespräch war zu Ende.
Wie gelähmt saß sie auf dem Bett. Warum musste die dumme Kuh auch Jens ins Spiel bringen. Jens, der ihr nichts da gelassen hatte außer neun Flaschen Rosé, Domaines Ott. Eine für jedes Jahr.
Wie in Trance saß sie auf ihrem Bett, als das Telefon wieder summte. Der Intendant. Sie starrte das Telefon an, wartete, dass es Ruhe gäbe. Sie konnte jetzt nicht mit ihm sprechen. Sie wusste selbst, dass ihre letzten beiden Inszenierungen im Schauspielhaus alles andere als ein Publikumserfolg gewesen waren und ihre Vertragsverlängerung keineswegs als sicher galt. Und bei dem neuen Stück, das sie auch noch gegen die Überzeugung des Intendanten durchgesetzt hatte, hing sie mit den Proben zurück. Und dann heute der Ausfall wegen Alexanders Begräbnis.
Eingehüllt in das schweißnasse Laken wartete sie, bis der Intendant aufgab. Auch wenn sie lieber zu Haus geblieben wäre, es musste sein, sie konnte sich vor Alexanders Begräbnis nicht drücken. Gut eine Woche hatte es gedauert, bis seine Leiche für die Beerdigung freigegeben worden war. Wobei sie sich fragte, ob das irgendwie mit ihrer gemeinsamen Zeit in der Wohngemeinschaft zusammenhing. Als Frank anfing, sich zu verändern, schweigsamer wurde, arroganter und immer mal wieder verschwand. Es waren wilde Zeiten, Mitte der Siebzigerjahre. Hysterische Zeiten. Sie und Frank waren damals ein Paar, aber selbst ihr gegenüber war er vage geblieben. Und wenn man ihn fragte, konnte er sehr verletzend werden, da ging man ihm besser aus dem Weg. Das änderte sich später, und allmählich war er wieder der Alte geworden. Warum er so war, darüber hatten sie in der Wohngemeinschaft viel gerätselt. Es hatte gedauert, aber schließlich war sie dahintergekommen. Teilweise jedenfalls.
Doris warf das Handy aufs Bett, lief ins Bad, stellte sich unter die Dusche. Sie war kaum angezogen, als sie das Handy erneut hörte. Mit einem anderen Klingelton. Jens’ Klingelton. Die ersten Takte von Schumanns Rheinischer Symphonie. Sie hetzte zurück ins Schlafzimmer, fand das Handy nicht; erst als sie das Laken zurückschlug, flog es in hohem Bogen auf den Parkettboden und schlitterte unter die Kommode, knallte vor die Fußleiste und schwieg. Sie fluchte, Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie riss einen Kleiderbügel aus dem Schrank und stocherte unter der Kommode nach dem Gerät. Als sie aufstand, sah sie im Spiegel, dass der Ärmel ihrer schwarzen Kostümjacke grau vom Staub des Fußbodens war. Mit einem Schluchzen warf sie sich aufs Bett und starrte auf das Display. Ihr in vier, fünf Teile zersplittertes Gesicht schaute zurück. Ohne Erfolg fingerte sie auf der Tastatur herum. Das Handy blieb still. Eine leichte Übelkeit ergriff sie.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf, feuchtete ein Handtuch an, hielt es vor ihre geröteten Augen und wischte die Staubflusen von ihrer Jacke. Wobei ihr Blick auf das Foto fiel, das hinter dem Spiegel steckte. Le Déjeuner sur l’herbe – in dem Wäldchen mit dem kleinen See, Frühstück im Grünen. Es war ein fröhlicher Tag, eine angenehme Spannung hatte sie in Bann geschlagen, wie sie nackt an dem See posierten.
Wie unkompliziert hatte damals alles ausgesehen. Da war auch Frank noch nicht so unzugänglich gewesen. Nicht, dass sie voller Hoffnungen waren, sie brauchten gar nichts zu hoffen, es war alles da, lag ausgebreitet vor ihnen. Unendliche Möglichkeiten. Es ging nur darum, die richtige auszuwählen. Vor einigen Tagen noch hatte sie einen Satz gelesen, wenngleich sie nicht mehr wusste wo, der ihr nicht aus dem Kopf ging. »Man stellt nicht viele Fragen in der Jugend, man vertraut dem Leben.« Sicher Camus, dachte sie. Wie glatt ihre Haut war. Selbst auf der schlechten Kopie sah man das.
Sie blickte auf die Uhr und fragte sich, was sie auf der Beerdigung erwarten würde. Ablenkung. Zumindest Ablenkung. Und für einen Augenblick, als sie schon in ihrem Fiat saß und Richtung Düsseldorf fuhr, kam ihr der Gedanke, dass es doch schreckliche Zeiten sein mussten, wenn man, um sich abzulenken, auf eine Beerdigung ging. Aber vielleicht würde sie wenigstens für ein paar Stunden etwas von der Leichtigkeit wiederfinden, die ihr Leben hatte, als es noch vor ihr lag.
In A Gadda Da Vida
Alexander hatte seine Ankündigung wahrgemacht. Das hörte Meta sofort. Von fern schon klang Musik herüber, Iron Butterfly. In A Gadda Da Vida. Fast fünfzig Jahre her. Kurz ertappte sich Meta bei dem Gedanken, dass das eigentlich ihre Platte war, die sie Alexander damals bei ihrem Auszug zurückgelassen hatte. Ihr gefiel der Gedanke von Großzügigkeit, doch je länger sie sich zu erinnern versuchte, umso unwahrscheinlicher kam ihr das vor. Es waren keine großzügigen Zeiten gewesen, damals. Ganz sicher nicht bei Platten.
Der Friedhof erinnerte sie an die Weiden in Mallorca im Spätsommer – verdorrtes Gras, braune, geknickte Halme, staubtrockene Erde. Ihr Gefühl sagte ihr, dass die Musik bald zu Ende sein würde. Sie lief zwischen den Gräbern hindurch in Richtung Kapelle. Mit den letzten Gitarrenriffs erreichte sie das kleine Gebäude, als Letzte, wie es aussah. In dem Raum war kein Stuhl unbesetzt, gut vierzig Menschen, schätzte sie. Vorn, neben Vasen voll weißer Callas, der Sarg, schwarzes Holz. Sie lehnte sich an die Rückwand der Kapelle, nicht weit entfernt von einem Mann unbestimmbaren Alters, leicht gebeugt, große Tränensäcke unter den Augen, der Kopf rasiert, grau schimmernd, fast ein bisschen räudig. Was es nur war, dass sie glauben ließ, sie kenne ihn?
Der Geistliche hatte mit seiner Andacht begonnen. Als er zum zweiten Mal ein »Liebe Freunde von Alexander« einschob, hörte Meta nicht mehr hin. Es war so schwül in der Kapelle, dass sie fürchtete, das Ende der Andacht nicht zu überstehen. Der Mann mit den Tränensäcken kam ein paar Schritte näher, griff hinter einen Vorhang und holte einen kleinen Hocker hervor, den er neben sie stellte. Die Blöße würde sie sich nicht geben.
»Danke, es geht.« Sie schüttelte den Kopf.
Jetzt