Der Mitläufer. Wolfgang Mock
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Sie sah Doris an. »Wie geht es dir?«
»Es geht.« Doris betete, dass Romy nicht auf Jens zu sprechen käme.
Was nicht geschah. Dafür legte Romy ihr den Arm um die Schultern und sagte: »Wir halten durch.« Was Doris mit einem Nicken quittierte.
Sie kondolierten Chloe. Doris bemerkte, wie Romy ihre Hand ein wenig länger als nötig hielt und ihr mit dem Handrücken über die Wange fuhr, was Chloe, ohne Überraschung zu zeigen, geschehen ließ.
Als sie sich umschauten, sah Doris Chrissie winken. Sie stand mit Frank und einigen anderen im Schatten einer riesigen Rosskastanie, deren Blätter in der Hitze und Trockenheit begannen, sich rotbraun zu färben. Träge fielen einzelne Blätter aus dem Laubdach.
Als sie mit Romy näher trat, schob Thomas sich unauffällig in den Hintergrund. Einige andere hatten sich auch zu der Gruppe gesellt, Freunde von früher, Gesichter, die Doris erst erkannte, als die dazugehörigen Namen fielen. Dann ging es reihum mit den Umarmungen. Meta hielt Frank lange im Arm. Beide, fand Doris, wirkten erleichtert, mehr noch als alle anderen.
Ganz anders, als Frank Chrissie umarmte. Er schaukelte sie glücklich in seinen Armen, der Schmerz von damals war fraglos vergessen. Als Doris sie so sah, fiel ihr auch wieder ein, dass beide damals miteinander verheiratet gewesen waren, bevor irgendein Liebhaber, den niemand je zu sehen bekommen hatte, dessen Existenz Chrissie aber auch nie geleugnet hatte, die Ehe beendete.
Auch wenn sie Alexander im letzten halben Jahr regelmäßig besucht hatten, waren sie sich doch nur selten über den Weg gelaufen. Keiner, und das überraschte Doris jetzt, wie sie so vor ihr standen, hatte je den Vorschlag gemacht, etwas gemeinsam zu unternehmen. Dazu hatten die Besuche bei Alexander offenbar zu schwer auf ihnen gelastet.
Immer mehr Trauernde suchten den Schatten und bildeten kleine Gruppen unter den Kastanien. Ein Forschen in alten Gesichtern setzte ein, die Suche nach dem, was geblieben war, irgendetwas, was die Erinnerung hätte wecken können, bisweilen tatsächlich ein lautstarkes Wiedererkennen.
Einige, die sie nicht kannten, sammelten sich ebenfalls unter den Bäumen. Freunde, wie Doris hörte, vor allem aber Alexanders Schüler. Sie hatte sich aus dem Reigen der Umarmungen gelöst und beobachtete die Trauernden, von denen die ersten den Friedhof verließen. Noch immer bewegte sich das Schirmchen über Chloes Kopf, während sie die letzten Hände schüttelte. Dann sah Doris, wie ein älterer Mann mit haarlosem Schädel in gebeugter Haltung auf Chloe zuging. Hatte Chloe auf ihn gewartet? Er hielt ihre Hand, sprach eindringlich auf sie ein, es schien, als ärgere sie sich über ihn, ihr Kinn vorgereckt. Sie entfernten sich ein paar Schritte vom Grab. Von der Kapelle her kam ein heller, tragender Gesang, von dem sie nicht wusste, ob er noch zu Alexanders oder schon zur nächsten Beerdigung gehörte.
Neben ihr waren Frank und Meta aufgetaucht, und Doris hörte gerade noch, wie Frank leise zu Meta sagte: »Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung«, und Meta wischte sich einen Träne von der Wange.
»Als ob ich das je vergessen könnte …«
»Von wem ist das?«, fragte Doris.
»Klopstock, Messias, die erste Zeile. Wie oft hat Alexander mir daraus vorgelesen. Deshalb Meta. Weil Klopstock seine Frau so nannte.«
»Und du«, wandte sich Doris an Frank, »… hast dir den Spruch heute Morgen noch schnell angelesen und auf einen passenden Moment gewartet, ihn loszuwerden. Habe ich Recht?« Sie sah Chrissie an, die neben Frank aufgetaucht war.
»Ein gutes Gedächtnis hatte er schon immer. Er hat eigentlich nie etwas vergessen.«
»Heißt: Ich bin nachtragend«, gab Frank zurück.
»Und wie geht es dir sonst so?«, wollte Doris wissen.
»Ich tue mich noch etwas schwer mit dem Älterwerden, bin da wohl nicht so lernfähig. Jedenfalls beschäftigt es mich Tag und Nacht. Es ist zum Kotzen.«
»Aber was man so hört, bist du auf deine alten Tage nochmal auf dem Sprung nach oben.«
Frank gab sich lässig, zu lässig, um überzeugend zu wirken.
»Das bedeutet nur Stress, und irgendein Hampelmann nimmt sich dann vermutlich meine Diss vor und schaut, wo ich abgeschrieben habe.« Er grinste.
Das hatte Thomas gehört. »Den Mut, abzuschreiben, hatten wir doch nicht. Wir hätten viel zu viel Angst gehabt, entdeckt zu werden.«
»Nee«, entrüstete sich Doris, »das war doch eher eine Frage der Ehre.«
Sie hatte das Grab nicht aus den Augen gelassen. Noch immer schien Chloe sich mit dem Mann zu streiten, hielt ihn am Arm fest, als wolle sie ihn nicht gehen lassen. Als er sich schließlich losmachte, rief sie ihm etwas nach, er machte mit beiden Händen eine beschwichtigende Geste, die ihr zugleich verschwörerisch vorkam, sogar bedrohlich. Dabei entging ihr nicht, dass Frank und Chrissie die beiden ebenfalls beobachteten, angespannt dem Mann mit Blicken folgten, als dieser den Friedhof verließ. Chrissie ging sogar ein paar Schritte in seine Richtung und schien darauf zu warten, dass der Mann sie zur Kenntnis nahm. Was nicht geschah.
»Kennst du ihn?«, fragte sie Frank, aber der schien sie nicht gehört zu haben. Es dauerte einen Augenblick, dann fiel die Spannung von ihm ab.
»Chloe«, antwortete er, »ich habe Chloe angeschaut. Eine kleine Augenweide.«
Doris war klar, dass er log. Frank kannte den Mann. Chrissie hielt, als wolle sie mögliche Fragen im Keim ersticken, ihre Trauerkarte in die Höhe. »Sollen wir nicht mal gehen«, sagte sie in die Runde, »wir wollen uns doch noch in der Tanne treffen. Der obligate Leichenschmaus. Ich brauche zwingend was zu trinken.«
Doch keiner wollte der Erste sein, sie unterhielten sich leise, jeder hörte bei jedem zu. So blieben sie im Schutz der Bäume, obwohl die Hitze auch unter den Kastanien immer unerträglicher wurde, hörten den allmählich versiegenden Gesprächen zu und harrten aus, erwartungsvoll.
Bis Chloe plötzlich auftauchte. Doris spürte, dass es genau dieser Moment war, auf den sie gewartet hatten. Chloe kam ihnen durch die blendende Mittagssonne entgegen, unter ihrem Schirmchen lag ihr Gesicht im Schatten. Kleine Staubwolken stiegen bei jedem Schritt von ihren Schuhen auf, es war, als wüchsen ihr Flügel aus den schmalen Fesseln. Doris beschlich ein ungutes Gefühl, während sie Chloe mit Blicken verfolgte. Es sah so aus, als zöge sie – die Stellvertreterin Alexanders auf Erden – in die Schlacht. Vielleicht war es auch nur die Kraft der Jugend, die so faszinierte.
»Armer Alexander«, hörte Doris Meta sagen. Sie hatten einen Halbkreis gebildet, in dessen Zentrum Chloe jetzt ihren Schirm zuklappte. »Er wollte es so.«
Alle redeten durcheinander. »Erinnert euch mal an sein Gerede von der Selbstbestimmtheit des Individuums.« Nacheinander reichten sie Chloe noch einmal die Hand. Chrissie, die sie als Einzige etwas besser kannte, machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie, wobei Chloes Kopf fast vollständig in Chrissies grauer Mähne