Wohnt Gott im Gehirn?. Hans Goller
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Ursprung und Funktion des religiösen Erlebens und Verhaltens
Wir Menschen sind nach Alper so konstruiert, dass wir durch Tätigkeiten wie Meditieren, Beten, Singen, Yoga, Tanzen und durch religiöse Rituale bestimmte Erlebnisse herbeiführen. Alle Kulturen kennen religiöse Erlebnisse wie das Gefühl der Einheit, der Zeitlosigkeit, der Grenzenlosigkeit, der Heiligkeit, der Ekstase, der Wonne und des tiefen Friedens. Alper nennt außergewöhnliche spirituelle und mystische Erlebnisse, wie den Verlust des Selbstbewusstseins, die Aufhebung der Ich-Grenzen, ein Gefühl der Raum- und Zeitlosigkeit, des tiefen Friedens und der Euphorie. Während derartiger Erlebnisse ziehe der Mensch sich in einen veränderten Zustand zurück, in dem er zwischen Innenwelt und Außenwelt nicht mehr unterscheiden könne. Er fühle sich dann eins mit dem gesamten Universum. Die Tatsache, dass in so vielen Kulturen derartige Erlebnisse mit ähnlichen Worten beschrieben werden, deute darauf hin, dass es sich hier um ein kulturübergreifendes Phänomen, um ein genetisch vermitteltes Merkmal, handelt. Religiöse Erlebnisse werden durch neurophysiologische Mechanismen in unserem Gehirn erzeugt, und man könne sie neurobiologisch erklären.
Der Mensch habe die Tendenz, religiöse Erlebnisse als Beweis für eine göttliche oder transzendente Wirklichkeit zu betrachten. Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften widersprechen jedoch dieser Deutung. Sie zeigen, dass religiöse Erlebnisse mit bestimmten neuronalen Aktivitäten einhergehen. Diese Erlebnisse seien weder die Folge eines Kontaktes mit dem Göttlichen noch ein Beweis für die Existenz einer transzendenten Wirklichkeit, sondern das Produkt von Hirnmechanismen.
Alper fragt, inwiefern religiöse Erlebnisse dazu dienen, die Überlebenschancen des Menschen zu vergrößern. Er meint, nur ein religiöses Bewusstseins könne uns vom schmerzlichen Wissen um den eigenen Tod befreien. Es sei durchaus möglich, dass unsere Art ohne den palliativen Mechanismus religiöser Erfahrungen nicht überlebt hätte. An eine geistige Wirklichkeit zu glauben sei das Eine, sie zu erleben sei jedoch etwas völlig anderes. Zur Illustration bringt Alper den Vergleich mit einem Gestrandeten, der auf einer einsamen Insel festsitzt und Angst hat, zu verhungern. Nach fünf Tagen ohne Nahrung sieht er ein Schiff auf die Insel zufahren. Das Wissen, dass Nahrung unterwegs ist, befreit ihn vom Großteil seiner Angst. Doch der Glaube, dass Nahrung unterwegs ist, und das Verzehren der Nahrung sind zwei verschiedene Dinge. Erst der tatsächliche Verzehr der Nahrung wird den Hunger des Gestrandeten stillen und ihn von seinen Hungerschmerzen befreien. Ähnliches treffe auf das religiöse Bewusstsein zu. Der Glaube an Gott und an ein Leben nach dem Tod befreie uns von der Todesangst, und wir seien zudem in der Lage, euphorische Empfindungen zu erleben, die unseren Glauben begleiten. Wir setzen bewusst verschiedene Techniken ein, wie das Rezitieren religiöser Texte, das Singen frommer Lieder, Meditation sowie den Konsum bewusstseinserweiternder Drogen, um angstreduzierende religiöse Erlebnisse hervorzurufen. Mit solchen Mitteln der Täuschung vermindern wir unsere Angst selbst dann, „wenn kein Schiff auf unsere Insel zugefahren kommt“. Auch wenn es Gott und ein Leben nach dem Tod nicht gebe: Allein der Glaube daran helfe uns, eine angstmindernde Erfahrung zu machen. Das häufigste Symptom, das mit einer solchen Erfahrung einhergehe, sei die Auflösung der eigenen Ich-Grenzen und des persönlichen Selbst-Sinns. Um diesen Aspekt der religiösen Erfahrung zu verstehen, müsse man zuerst die Natur des menschlichen Ego, des Selbstbewusstseins, erforschen.
Unser Selbstbewusstsein, dem das episodische und autobiografische Gedächtnis zugrunde liegen, sei aufs Engste mit unserer Neurophysiologie verbunden. Alper nennt jene Hirnbereiche, aus denen das Selbstbewusstsein entsteht, die „Ich-Funktion“ oder das Körperkontrollzentrum. Wäre unser Körper ein Schiff, dann wäre das Ich sein Kapitän. Wäre unser Körper ein Tempel, dann wäre unser Ich der Hohepriester. Die Ich-Funktion sei für die Erhaltung des gesamten Körpers verantwortlich. Alper bezeichnet das Ich als den Ort des Erlebens. Nicht die Hand spüre den Schmerz, sondern das Ich spüre ihn in seiner Hand. Das Ich erlebe auch die lähmendste aller Ängste, die Angst vor dem eigenen Tod. Mit der Entstehung des Selbstbewusstseins habe uns die natürliche Selektion einen Mechanismus zur Verfügung gestellt, der es unserer Ich-Funktion ermöglichte, die überwältigende Belastung durch das Wissen um den eigenen Tod zu ertragen. Alper nennt diesen Mechanismus die „transzendente Funktion“.
Während eines mystischen Erlebnisses werde die Ich-Funktion unterdrückt. Ausdrücke wie „Verlust des Selbstbewusstseins“ und „Auflösung der normalen Ich-Grenzen“ beschreiben den Zustand, in dem das Ich vorübergehend abwesend ist. Ist die Ich-Funktion ausgeschaltet, dann gebe es nichts, mithilfe dessen man Schmerz und Angst erleben könnte. Es bleibe ein Gefühl der Ichlosigkeit übrig, ein Zustand, den die Betroffenen als ozeanisch, als grenzenlos und als euphorisch beschreiben. Durch das Ausschalten der Ich-Funktion erhalten wir eine Art Galgenfrist von der Belastung durch die eigene Existenz. Während der spirituellen Erlebnisse befinden wir uns in einem veränderten Zustand. Die Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt verschwinden, und wir erleben ein kosmisches Bewusstsein, eine Art „Gottes-Bewusstsein“. Unser Kapitän sei dann vorübergehend von seinen Pflichten entbunden, und damit verschwinden auch alle Ängste. In solchen Momenten fühlen wir uns frei von persönlicher Verantwortung, von Sorgen und Befürchtungen und sind immun gegenüber Leid und körperlichem Schmerz. Das sei der Grund dafür, warum spirituelle Erlebnisse häufig als euphorisch, als Verzückung, als Glücklichsein und als tiefer Friede beschrieben werden.
Alper meint, Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, die es uns ermöglichen, dem Gehirn bei der Arbeit zuzusehen, würden zeigen, dass das, was wir als spirituell, als mystisch und als transzendent erleben, sich auf Gehirnprozesse reduzieren lasse. Außerdem könne man religiöse Erlebnisse durch Drogen wie Meskalin und Psilocybin erzeugen. Die Azteken nannten Peyote, ein Kakteengewächs, den „göttlichen Boten“ und Psilocybin „Fleisch Gottes“. Es gebe keinerlei Beweise für die Existenz einer geistigen Wirklichkeit, doch es gebe genügend Beweise dafür, dass spirituelle Erfahrungen ihrer Natur nach rein physiologisch sind. Wir besitzen keine unsterbliche Seele, wohl aber ein physisches Gehirn. Dem Neurobiologen Steven Rose zufolge ist es äußerst wahrscheinlich, dass wir eines Tages die „mystische Erfahrung“ mittels der Neurobiologie erklären können; es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die Neurobiologie jemals mittels der „mystischen Erfahrung“ erklärt werden wird (vgl. Alper 2008, 154).
Alper versucht, auch die heilende Kraft des Gebetes rein naturalistisch zu erklären. Es müsse physiologische Mechanismen geben, die dafür verantwortlich sind. Meditation und Gebet seien aufs Engste mit der religiösen Funktion verbunden. Wenn wir beten, richten wir unsere Bitten an Gott oder an eine höhere Macht. Dabei verändere sich die Physiologie unseres Körpers derart, dass Angst und Stress abnehmen und Heilungsprozesse angeregt werden. Es gebe sogar Belege dafür, dass wir durch Gebet die Zeit verkürzen können, die für die Genesung von Krankheiten und chirurgischen Eingriffen notwendig ist. Wir Menschen neigen von Natur aus dazu, an übernatürliche Wesen zu glauben, die eine Macht besitzen, die unsere eigenen Möglichkeiten bei Weitem übersteigt. In Zeiten der Not wenden wir uns an sie um Hilfe. Wenn wir zu Gott beten, dann glauben wir, dass er uns helfen wird, ähnlich wie unsere Eltern uns geholfen haben, für uns da waren, sich um uns sorgten und uns beschützten.
Der bloße Glaube daran, dass unser Flehen und Bitten erhört werden wird, mindere unser Angstniveau, befreie uns weitgehend von psycho-biologischen Belastungen und wirke sich heilend auf unseren gesamten Organismus aus.
Der Ursprung psychosomatischer Krankheiten liege im Gehirn und nicht in den erkrankten Organen. Menschen, die an solchen Krankheiten leiden, werden in der Regel nicht durch herkömmliche Behandlungen und Medikamente geheilt, sondern eher dadurch, dass sie von ihren überstarken Ängsten, die sich negativ auf den Körper auswirken, befreit werden. Wird jemand durch Gebet geheilt, dann ist die Heilung nicht auf ein Wunder zurückzuführen, sondern darauf, dass sein Angstniveau gesenkt wurde. Da alle Kulturen von der heilenden Kraft des Gebets sprechen, nimmt Alper an, dass wir Menschen