Route 66. Frederik Hetmann
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American Memories
»Meine Gefühle gegenüber Chicago sind, solange ich mich erinnern kann, wild ambivalent. Nelson Algren scheint es mir vor vierzehn Jahren treffend und poetisch ausgedrückt zu haben:
›Es ist nicht so sehr eine Stadt wie eine Station unterwegs, auf der anderthalb Millionen Zweibeiner mit einem einzigen Schrei ausschwärmen: Eine Schulter oder ein Bein ab. Hier komm’ ich. Jedermann in dieser gemieteten Luft ist auf sich allein gestellt.
Aber wenn man einmal Teil dieses besonderen Fleckens geworden ist, wird man nie mehr einen anderen mögen. Es ist, als seist du in eine Frau mit einer gebrochenen Nase verliebt. Andere Hübsche mögen besser aussehen. Aber keine ist so real wie sie.‹«
Studs Terkel, Division Street
1870 wurden die Schlachthöfe gegründet, für die Chicago bis in unser Jahrhundert hinein berühmt und berüchtigt sein wird. Carl Sandburg, ein bekannter amerikanischer Lyriker der 20er Jahre, wird die Stadt in seinen Gedichten den »Schweineschlächter der Welt« nennen. Heute ist von den Schlachthöfen nur noch das Eingangstor, gewissermaßen als Symbol, stehen geblieben. Die Bevölkerung verdoppelte und verdreifachte sich innerhalb weniger Jahre. Die damals gebräuchlichste Hausform war der Balloon Frame, ein dünnwandiger Holzbau, der rasch zu errichten war. Einwanderer aus Deutschland, Irland, Polen, Italien, Schweden und Juden ließen sich in solchen Holzhäusern nieder: Sie legten den Grundstock für die multi-ethnische Bevölkerung der Stadt. Charakteristisch für das Stadtbild waren damals die endlosen, hölzernen Gehsteige, die angelegt worden waren, um das tiefer gelegene natürliche Niveau anzuheben.
Das frühe Chicago bestand fast ausschließlich aus Holz. Dann kam das große Feuer des Jahres 1871. Angeblich soll die Kuh einer gewissen Misses O’Leary eine Lampe umgestoßen haben. Danach brannten die drei Quadratmeilen des Stadtzentrums fast völlig nieder. Bis auf das Wohnhaus der guten Frau. Das lag im Windschatten und blieb unberührt. Da die Feuerwehr zunächst zur falschen Adresse ausrückte, nahmen die Brände katastrophale Ausmaße an. Angefacht von einem starken Südweststurm, wütete das Feuer dreißig Stunden lang und machte ein Drittel aller Häuser dem Erdboden gleich. Im Grunde war die Katastrophe ein Glücksfall für die Stadt. Der Brandschutt wurde zur Landgewinnung am See verwendet, und noch heute ist ein großer Teil der 47 Kilometer langen Uferstrecke am Michigan-See Parkgebiet.
2. Chicago – Ort sozialer Konflikte
Wenn man Chicago den Spitznamen Windy City gegeben hat, so spielt das nicht nur auf ein meteorologisches Phänomen an. Das Wort »windig« hat, wie im Deutschen, eine Doppelbedeutung. Windy im Sinne von häufigem Wind und im Sinne von fragwürdig, hemdsärmelig, skrupellos - das bezieht sich vor allem auf die Zeit des Ellenbogen-Frühkapitalismus: 1886 kommt es zu dem sogenannten Haymarket Riot, bei dem mit einer Bombe sieben Polizisten in die Luft gesprengt werden. Es lohnt sich, die Hintergründe dieses Ereignisses etwas näher zu betrachten.
Im Jahre 1884 beschloss der in Chicago tagende Jahreskongress des »Verbands der Gesellschaften und Arbeitervereine«, den Kampf für den Achtstundentag zu verstärken. Ihren Höhepunkt erreichten diese Aktionen am 1. Mai 1886, an dem 300.000 Arbeiter in den USA, davon allein 40.000 in Chicago, streikten, was einem Generalstreik gleichkam. Am 3. Mai 1886 wurden vor der Fabrik für Erntemaschinen von McCormick in Chicago zwei streikende Arbeiter von der Polizei erschossen und mehrere schwer verletzt, nachdem sie Streikbrecher angegriffen hatten. Aus diesem Anlass fand am nächsten Abend auf dem Haymarket eine friedliche Protestkundgebung statt. Kurz vor Ende der Versammlung – die Mehrheit der ursprünglich 3000 Anwesenden war schon gegangen – marschierte eine Polizeitruppe auf den Platz, obwohl Chicagos Bürgermeister Carter Herrison sich persönlich vom friedlichen Verlauf der Kundgebung überzeugt und den bereitstehenden Polizeikräften den Rückzug befohlen hatte. Nun verlangte die Polizei plötzlich das Ende und die Auflösung der Kundgebung. Bevor die Anwesenden dem Folgeleisten konnten, warf ein Unbekannter eine Bombe in Richtung Polizei, worauf diese das Feuer eröffnete. Sieben Polizisten und eine nie eindeutig geklärte Zahl von Zivilisten kamen ums Leben. Von der explodierenden Bombe wurde der Polizist Matthias J. Degan getötet. Alle übrigen Polizisten kamen nachweislich durch Revolverschüsse zu Tode. Die meisten, wenn nicht sogar alle dieser tödlichen Schüsse, waren jedoch nicht von Zivilisten, sondern von den Kameraden der getöteten Polizisten abgefeuert worden:
Nach dem 4. Mai 1886 herrschte in Chicago praktisch der Ausnahmezustand. Anarchisten und andere Radikale wurden verhaftet. Die Presse war voll von Horrorberichten über Verschwörungen und geplante Bombenattentate. Am 27. Mai verkündete das Gericht die Anklage gegen die Agitatoren der Protestversammlung: Sie lautete auf Mord. Zusammen mit 21 weiteren Arbeitern sollten sie sich darüber hinaus wegen Verschwörung, Aufruhr und Verstoß gegen das Versammlungsrecht verantworten. Drei Deutsche unter ihnen - die Zahl der deutschen Einwanderer nach Chicago war zu dieser Zeit erheblich – erkauften sich die Freiheit, indem sie als Kronzeugen aussagten. Am 21. Juni 1886 begann der Prozess mit der Auswahl der Geschworenen. Der damit beauftragte Gerichtsdiener Henry Ryce erklärte öffentlich: »Ich betreue diesen Fall, und ich weiß, was ich tue. Diese Kerle werden gehängt. Das ist so sicher wie der Tod. Ich lade nur solche Kandidaten vor, die die Verteidigung der Reihe nach alle ablehnen muss, so dass die Zahl ihrer Ablehnungsanträge bald erschöpft ist. Die Verteidigung muss dann mit den Geschworenen zufrieden sein, die der Staatsanwalt will.« Obwohl Bestechungsgelder, Gewalt und Bedrohung eingesetzt wurden, konnte der Staatsanwalt seine ursprüngliche Mordanklage nicht aufrechterhalten. Sie wurde im Laufe des Prozesses in »Verschwörung mit dem Ziel des Umsturzes der bestehenden gesetzlichen Ordnung« umgewandelt. Die Anarchisten von Chicago hatten tatsächlich gewaltsame Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele bejaht. Allerdings verstanden sie Gewalt als Selbstverteidigung gegen die Gewalt des Staates. Am 30. August 1886 verkündeten die Geschworenen das Urteil. Alle sechs Angeklagten wurden für schuldig befunden und bis auf einen zum Tode verurteilt. Im September 1887 wurde das Urteil an vier der Angeklagten vollstreckt. Zwei wurden begnadigt. Die Verfasser des Lexikons der Anarchie kommen bei der Einschätzung des Prozesses zu folgender Feststellung: »Die Ermordung der Arbeiter am 3. und 4. Mai, die nachfolgende national-chauvinistische Repression, die den Anarchismus als unamerikanisch bezeichnete und mit den Immigranten identifizierte, brachen dem US-amerikanischen Anarchismus trotz großer Solidaritätskampagnen das Rückgrat. Die amerikanische Arbeiterbewegung wurde insgesamt entscheidend geschwächt. Die Gewerkschaften distanzierten sich nach der Haymarket-Bombe von den Anarchisten und säuberten ihre Reihen von linksradikalen Mitgliedern; dies isolierte die Anarchisten, während es die Gewerkschaften (vorübergehend) zu relativer Bedeutungslosigkeit führte.« Chicago aber blieb ein Ort starker sozialer Spannungen.
1893 veranstaltete die Boomtown Chicago zum 300. Jahrestag der Entdeckung Amerikas die World Columbian Exposition. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie zum Symbol eines im Zeichen des Kapitalismus aufblühenden Amerikas, oder wie die zeitgenössische Presse schrieb, »zum größten Spektakel moderner Zeiten« wurde. Als Präsident