Route 66. Frederik Hetmann
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Der zweite Dichter der Chicago-Renaissance ist Edward Lee Masters. Er wurde 1869 in Garnett, Kansas, geboren, wuchs in Kleinstädten des Mittelwestens auf und war zwischen 1891 und 1920 Anwalt in Chicago. Sein bekanntestes Werk ist der 246 Gedichte in freiem Rhythmus umfassende Zyklus Spoonriver Anthology (deutscher Titel: Die Toten von Spoon River). In seinen Gedichten kommen die Einwohner einer fiktiven amerikanischen Kleinstadt zu Wort, die gewissermaßen aus dem Grab heraus Rückschau auf ihr Leben halten und, indem sie von ihren Frustrationen, ihrer Isolation und der Macht des Neides berichten, den Mythos von der kleinstädtischen Idylle aufheben. Masters ist in der Tradition eines Walt Whitman zu sehen; seine realistische, desillusionierende Lyrik bildet das Verbindungsglied zu Sherwood Anderson und seinem Werk Winesburg, Ohio. In ge-wissem Sinn war dieser, von seinem Schüler allerdings verspottet, Ernest Hemingways Lehrer. Hemingway stammt aus Oakpark, einem vornehmen ländlichen Vorort von Chicago. Die Landschaft der Prärie und des Michigan-Sees bilden die Kulisse für viele seiner Kurzgeschichten.
Die Zeitschrift Poetry war es, die schon 1914 die Eröffnungsverse aus den Chicago Poems von Carl Sandburg ihren Lesern vorstellte. Sandburg, Sohn eines eingewanderten Eisenbahnarbeiters, der später auch durch seine dreibändige Abraham Lincoln-Biographie bekannt wurde, wurde zum repräsentativen Lyriker seiner Generation im Mittelwesten. Auch er kam aus der Tradition eines Walt Whitman und versuchte, aus der Umgangssprache seine Lyrik zu formen. Voller Pathos verstand er sich als der Barde des einfachen Mannes. Verse wie »Schweinemetzger für die Welt // Werkzeugmacher, Weizenstapler, Spieler mit Eisenbahnen und Frachtverteiler der Nation // Stürmisch, rüde, lärmerfüllt // Stadt der breiten Schultern« kennt noch heute jeder lokalpatriotisch gesinnte Einwohner Chicagos auswendig. Dass die akademischen Kritiker in New York über solche Zeilen die Nasen rümpften, focht den Dichter nicht an, der darauf erwiderte: »Hier haben wir den Unterschied zwischen uns und Dante. Dieser schrieb eine Menge über die Hölle, ohne sie je gesehen zu haben. Wir schreiben über Chicago, nachdem wir uns genau dort umgesehen haben.«
Für den berühmten amerikanischen Literaturkritiker Henry Louis Mencken aber war Chicago, und das nicht zuletzt wegen Carl Sandburgs Lyrik, zwischen 1910 und 1920 fast so etwas wie die literarische Hauptstadt der USA. Er schrieb: »Finde einen Schriftsteller, der mit jedem Pulsschlag, jedem Schnaufer, mit all seinen Drüsen ein unzweifelhafter Amerikaner ist. Der etwas Neues und eigentümlich Amerikanisches zu sagen hat, und in neun von zehn Fällen wirst du entdecken, dass er in irgendeiner Art von Beziehung steht zu jenem gargantuanisch-überbordenden Schlachthaus am Michigan-See, dass er dort in die Welt gesetzt wurde oder dort angefangen hat oder durch die Stadt hindurchgegangen ist, in jenen Tagen, da sie jung und biegsam war ...«
Als Carl Sandburg 1967 starb, wurde seine Nachfolgerin als poeta laureatus des Staates Illinois Gwendolyne Brooks, geboren 1917 in Kansas: eine elegante Dichterin aus dem schwarzen Chicago. Die repressive Gesellschaftsordnung der Stadt findet vor allem in der Prosa von Richard Wright (1908 bis 1960) ihren Ausdruck. Man hat seinen bekanntesten Roman Native Son, erschienen 1940, die Geschichte eines jungen Schwarzen von der Südseite, der zum Mörder wird, Dreisers American Tragedy aus der Generation davor gegenübergestellt. In den Elendsquartieren der polnischen Einwanderer Chicagos spielt der bekannteste Roman von Nelson Algren (geboren 1909 in Detroit), Der Mann mit dem goldenen Arm, der zum ersten Mal überzeugend und ohne Beschönigung das Rauschgiftproblem in den amerikanischen Slums darstellte.
Der berühmteste Romancier Chicagos freilich ist der 1976 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete, in Kanada geborene, aber schon als Kind in die Stadt gekommene Saul Bellow. Ein Satz aus seinen Romanen, die die finsteren Seiten der Stadt besingen, gibt überzeugend die Atmosphäre in den schwarzen Ghetto-Vierteln der Südseite während der 50er und 60er Jahre wieder: »Wohnhäuser loderten in Oakwood mit großen Flammenschals, die Sirenen jaulten unheimlich, die Feuerwehr, Krankenautos und Polizeiwagen – eine Tolle-Hunde-, Lange-Messer-, Notzucht- und Mordnacht. Tausende von Hydranten offen, die aus beiden Brüsten Wasser sprühten. Die Ingenieure waren verblüfft, wie der Spiegel des Lake Michigan fiel, als diese Tonnen von Wasser sich ergossen. Kinder lauerten mit Handfeuerwaffen und Messern.«
6. Chicagos Slums in den 60er Jahren
Hier kann ich mit eigenen Erfahrungen aus dem Jahr 1968 aufwarten. In meinem Tagebuch habe ich damals notiert: »... Dann also schon heute hinaus ins Southend, wo ich mich in dem Jugendzentrum eines Ghettoviertels ein paar Tage umsehen soll. Die Entfernungen in dieser Stadt sind gewaltig. Im Bus werden es immer weniger Weiße, immer mehr Schwarze steigen zu. Schließlich bin ich der einzige Hellhäutige hier. Ein seltsames Gefühl, einmal die Minderheit zu sein. Nicht, dass mir Irgendjemand zu nahe treten würde, nicht, dass mich Jemand anstarrt. Es ist viel undramatischer. Man ist ein Einzelner, und die anderen sind viele. Ich begreife auf dieser Busfahrt zum ersten Mal ganz deutlich, was es heißt, zu einer Minderheit zu gehören, die sich schon durch ihre Hautfarbe verrät. Und in dieser Situation sind Schwarze in diesem Land ein ganzes Leben lang.
Das Viertel, in dem das Jugendzentrum liegt, ist zwanzig Minuten vom Stadtzentrum entfernt und längst noch nicht am Stadtrand. Die Häuser sind aus Holz und zerfallen, die Fensterscheiben meist eingeschlagen und durch Pappe, Blech oder Fliegendraht ersetzt. Auf der Straße liegt Unrat. Am Straßenrand noch die ausgebrannten Autowracks von den letzten Unruhen. Es wimmelt von Kindern. Die Menschen sitzen apathisch vor ihren Häusern. Es ist heiß, jetzt im August, über 30 Grad im Schatten. Die Luft ist feucht und stinkt. Der Laden an der Ecke ist ein Schnapsgeschäft, davor torkeln ein paar Betrunkene herum.
Der Leiter des Jugendzentrums sagt: ›Ich kämpfe hier auf verlorenem Posten. Hier ist nichts zu retten. Die Verhältnisse sind stärker als das bisschen Flickwerk, das wir leisten können. Ich weiß nicht, wie lange ich es hier noch aushalte.‹ Dieser junge Schwarze hat mit viel Idealismus seine Tätigkeit als Sozialarbeiter begonnen. Nun ist er am Ende seiner Kräfte. ›Das Beste wäre‹, erklärt er resignierend, ›das ganze Viertel würde eines Tages abbrennen.‹
American Memories
»Große Teile der South Side und der Near West-Side umfassen die schwarzen Ghettos, die ausgedehntesten im ganzen Land. Es gibt kleinere Ghetto-Bezirke in anderen Teilen der Stadt. Das ist natürlich inoffiziell. Der (ehemalige) Bürgermeister Richard J. Daley verkündete am 4. Juli 1963: ›Es gibt keine Ghettos in Chicago!‹«
Studs Terkel,
Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen
Etwas tun? Feuer legen vielleicht. Alle Häuser sind überbelegt: Zwischen zwölf und achtzehn Menschen in zwei, manchmal in drei Zimmern zusammengepfercht – das ist die Regel.
Die Zahl der unehelichen Geburten ist hier fast so hoch, wie die der ehelichen. Die Männer kommen und gehen, die Frauen und Kinder bleiben, und es werden immer mehr hungrige Mäuler. Die Arbeitslosenziffer in diesem Bezirk (damals, im Sommer 1968), in dem schätzungsweise zehn- bis zwölftausend Menschen mehr vegetieren als leben, liegt bei 85 Prozent.
Aber in nahezu jeder Wohnung gibt es einen Fernsehapparat, oft ist er fast das einzige Inventar. Meist ist er noch nicht bezahlt, und auf den Raten liegen Wucherzinsen. Auf dem Bildschirm sieht der Slumbewohner fast 24 Stunden am Tag das üppige Angebot der Konsumgesellschaft vorbeiflimmern; Autos, Kühlschränke, Motorboote, ein Grundstück an einem Waldsee – eine narrende, verhöhnende Fata Morgana.
Weil die Schwarzen auf schlechte Wohngebiete verwiesen sind, ist ihre familiäre Situation nicht selten chaotisch. Weil die Familienverhältnisse zerrüttet, die Wohnung miserabel, das Einkommen der Eltern unzureichend ist und somit nicht einmal die nötigsten