Route 66. Frederik Hetmann

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Route 66 - Frederik Hetmann

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ist halb sechs Uhr abends. Der Leiter des Jugendzentrums hat seiner Gruppe versprochen, mit ihr an den Michigan-See zum Baden zu fahren. Er kann mich nicht mit dem Auto in die City zurückbringen. Ich laufe zur Bushaltestelle, und es wird ein Spießrutenlaufen. Ich bin normal gekleidet, nicht auffällig, aber für diese Leute hier ist allein meine ganz normale Kleidung und meine weiße Haut eine unerhörte, mir auch völlig verständliche Provokation. Sie werfen Steine nach mir, sie spucken mich an. Sie brüllen mir Schimpfnamen ins Gesicht. Es würde mich nicht wundern, wenn sie versuchten, mich totzuschlagen. Es ist eine Wegstrecke von fünf oder sechs Minuten vom Jugendzentrum zur Bushaltestelle, aber ich frage mich allen Ernstes, ob ich mein Ziel lebendig erreichen werde.

      Ich denke immer wieder: Dieser Zorn ... Sie haben ja recht. Es muss so sein. Es ist zwangsläufig, wenn du hier lebtest, nach ein, zwei Monaten wärst du auch so. ›Du Narr‹, sagt Alice abends zu mir, als ich ihr meine Erlebnisse erzähle, ›du Narr, dort wäre dir niemand zu Hilfe gekommen. Dorthin wagt sich nicht einmal die Polizei.‹«

      Als ich 1996 dort draußen vorbeifuhr, blieb nur Zeit für einen flüchtigen Blick auf dieses Viertel. Ich kam mir ziemlich schäbig vor, als ich da hinter Glas vorbeisegelte. Schäbig, weil ich zu feige gewesen war, hinauszufahren und nachzusehen, wie es heute steht.

       7. Chicago und der Jazz

      Chicago ist auch eine Musikstadt. Im Herbst 1997 wird der Umbau des 106 Jahre alten Hauses des Chicagoer Symphonie-Orchesters am 4. Oktober mit der Aufführung von Beethovens Fünfter Symphonie unter Daniel Barenboim eröffnet. Am 25. Oktober 1997 feiert Sir George Solti seinen 85. Geburtstag. Er nimmt diesen Tag zum Anlass, sein tausendstes Konzert mit dem Chicago Symphony Orchestra zu dirigieren. Die Konzertszene für klassische Musik in Chicago hat Weltgeltung. Aber noch berühmter ist Chicago als Stadt eines bestimmten Jazz-Stils geworden. Und das kam so:

      Die Errungenschaften des Jazz der 20er Jahre lassen sich unter drei Stichworten zusammenfassen. Es war die große Zeit der aus New Orleans stammenden Musiker in Chicago. Es war die Zeit des klassischen Blues. Und die Epoche des Chicago-Stils. Die Legende erzählt, dass mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg New Orleans Kriegshafen wurde und der kommandierende Admiral um die Moral seiner Matrosen fürchtete, die sich im Storyville zu tummeln pflegten, dem Vergnügungsviertel der Stadt, in dem gleichzeitig der beste Jazz gemacht wurde. Storyville wurde geschlossen, die schwarzen Jazzmusiker wurden arbeitslos und wanderten zu Hunderten nach Norden ab. Vor allem nach Chicago. King Oliver leitete die wichtigste New-Orleans-Band in Chicago, die Hot Five und die Hot Seven von Louis Armstrong spielten dort auf, und so ergab sich ein merkwürdiges Phänomen. Was heute als New-Orleans-Stil gilt, ist nicht der archaische, auf Schallplatten kaum existierende Jazz, der in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in New Orleans gespielt wurde, sondern die Musik, welche die aus New Orleans stammenden Musiker in den 20er Jahren mit nach Chicago brachten.

      Zur gleichen Zeit kamen durch eine starke Einwanderungsbewegung von Schwarzen auch Blues-Sänger aus den ländlichen Bezirken der Südstaaten in die Stadt. Es waren Leute, die zuvor in ihrer alten Heimat mit Gitarre und einem Bündel von Plantage zu Plantage gezogen und dort den in unsauberen Tönen intonierten Folk-Blues gesungen hatten. Unter dem Eindruck der Großstadt veränderte sich der ländliche Blues. Vieles trug auch dazu bei, dass seine Sängerinnen sich mit den aus New Orleans nach Chicago emigrierten Jazz-Instrumentalisten zusammentaten und in der South Side von Chicago auftraten.

      Die jungen Leute – Schüler, Studenten, Amateure –, die in die Jazz-Lokale der South Side gingen und den Blues wie auch die New-Orleans-Bands hörten, begannen, diese Musik begeistert nachzuahmen. Daraus entstand der Chicago-Stil. Er ist gekennzeichnet durch eine Folge von Soli, die man »Chorusse« nennt. In ihm gewinnt als Instrument das Saxophon jene Bedeutung, die es seither in der Jazzmusik hat. Der vielleicht hervorragendste Vertreter des »kühlen« Chicago-Stils war der Kornettist Bix Beiderbecke. Sein früher Tod ließ ihn zur Legende werden, und die amerikanische Schriftstellerin Dorothy Baker machte ihn in ihrem Roman Young Man With The Horn zu einer literarischen Figur.

       American Memories

      »Wenn du den Blues nicht magst, musst du ein Loch in deiner Seele haben.«

      Jimmy Rogers, Blues-Gitarrist

      Noch einmal, in den 50er Jahren, kreuzen sich die Wege von Jazz und Literatur. In der Beat Generation versucht Jack Kerouac, die Rhythmen des Bebop in die Prosa seiner Romane zu übertragen. Unvergesslich für jeden Jazz-Fan und begeisterten Leser Kerouacs, wie er in seinem Roman Unterwegs seine Eindrücke als Tramp in Chicago schildert:

      »Ich kam recht früh am Morgen in Chicago an, fand ein Zimmer im YMCA und ging mit sehr wenig Geld in der Tasche zu Bett. Nach einem guten Tagesschlaf machte ich mich über Chicago her. Der Wind vom Michigan-See, Bebop auf dem Loop, lange Spaziergänge in South Halsted und North Clark, und ein langer Spaziergang nach Mitternacht in das ›Dschungelviertel‹, wo mir ein Patrouillenwagen folgte, weil er mich für eine verdächtige Figur hielt. Zu jener Zeit, 1947, stand ganz Amerika wie wahnsinnig auf Bebop. Die Typen auf dem Loop bliesen ihn, aber mit müden Mienen, denn der Bebop befand sich gerade in einem Übergangsstadium zwischen Charlie Parkers ›Ornithology‹-Periode und einer anderen, weniger hitzigen, die mit Miles Davis einsetzte. Und da saß ich und lauschte den Tönen der Nacht, deren Inbegriff Bebop für uns alle geworden war; und ich dachte an all meine Freunde von einem Ende des Landes zum anderen, und wie sie eigentlich alle in demselben Hinterhof irre und rasende Dinge trieben.«

       8. Wie alles begann: Der Mann, der die Route 66 schuf

      Der stilbewusste Reisende beginnt seine Fahrt über die Route 66 in Lou Mitchell’s Restaurant am 565 W. Jackson Boulevard, wo man seit 1923 von 5 Uhr 30 am Morgen bis 15 Uhr nachmittags frühstücken kann. Bis 8 Uhr morgens ist das Parken kostenlos. Ein Danish von Mitchell’s soll eine gute Wegzehrung sein! Von einer anderen Besonderheit des Restaurants hörte ich erst später: Jeder weibliche Kunde erhält kostenlos Milk-Duds. (Ich konnte nicht herausfinden, ob es sich dabei um ein Gebäck, ein Getränk oder vielleicht Sahnebonbons handelt!) Also, meine Damen: Auf zu Lou Mitchell’s und stellen Sie es fest!

      Aber zurück zur Route: Es wäre eine Schande, sie zu befahren, ohne nicht wenigstens eine Ahnung davon zu haben, wie sie überhaupt entstanden ist.

      Als Cy Avery vierzehn Jahre alt war, zog er 1885 mit seiner Familie nach Oklahoma. Sie kamen aus Pennsylvania, und zwar mit dem Pferdewagen. Die Reise, die drei Monate dauerte, ließ den jungen Mann zu einem lebenslangen Vorkämpfer für ein gutes Straßensystem werden. Nachdem er an einem College in Missouri graduiert hatte, verkaufte er Versicherungspolicen und Grundstücke in Oklahoma, lebte zunächst in der Kleinstadt Vinita, darauf in Oklahoma City und dann in Tulsa.

      Er selbst verbrachte dort wohl mehr Zeit in Gesprächen mit seinen Kunden über gute Straßen als über Versicherungspolicen. Er trat mehreren Gesellschaften bei, die sich zum Ziel gesetzt hatten, den Straßenbau zu fördern. 1913 wurde er zum Straßenbau-Kommissar von Tulsa County gewählt. Unter den ersten Neuerungen, die er einführte, war ein Straßen-Qualifikationssystem. 1915 war er Oberaufseher bei einer Gruppe von Sträflingen, die eine Straße von Colorado durch Oklahoma nach Arkansas bauten. 1924 schließlich ernannte man ihn zum Straßenbau-Kommissar des Staates Oklahoma. In einer seiner Denkschriften heißt es: »Mit den Highways (der amerikanischen Version der Schnellstraße) kommt eine Fusion verschiedenartiger Lebensformen, die der Stadt und die des Landes, auf uns zu. Ihr Bau verlangt nach einer neuen Konzeption, nach einem neuen Bewusstsein. Unsere großen Städte sind Abstraktionen. Ihre überkommene Form datiert aus den Tagen der Ochsenkarren und der von Mauern umgebenen Ortschaften. Ihre modernen Realitäten aber – Wasserversorgung, Abwassersystem, Eisenbahnen

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