Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

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Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth

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und Dutzende von Kameras aus den Anfängen der Kinematographie. Zur Hälfte verschwinden ihre Konturen im Dunkel der Halle, zur anderen Hälfte vergolden einzelne Sonnenstrahlen, die durch Lücken in den Fensterabdeckungen dringen, die seltsamen Preziosen.

      »Ich gehe mal vorneweg«, sagt mein Cicerone, als hätte er, seit ich ihn kenne, je etwas anderes getan.

      Gleich links droht ein Plakat zu Fritz Langs »M«: »Dein Mörder sieht Dich an«, weiter hinten lockt hoch oben in einem Regal ein Karton mit der Auszeichnung: »Leuchtschrift: Arbeit macht frei«. Im Zwielicht stoße ich gegen eine Kiste, bei deren Inhalt es sich um »Ballkleider und SS-Mäntel« handelt. Gewalt und Schrecken der Vergangenheit sind in der muffigen Halle allgegenwärtig.

      »Wir sammeln und konservieren alles«, sagt Gandert, »worin sich die Geschichte des Films materialisiert.«

      Doch cineastisches Fachinteresse hat mich nicht hierher geführt. Mein Ziel ist eine Regalfront im hinteren Teil der Halle. Von den unzähligen Umzugs- und Mineralwasserkisten, aus denen das Magazin zu einem Großteil besteht - »Wir haben kein Geld. Um alte Fotos und Filmprogramme zu verstauen, mussten wir uns von einer Firma Hunderte von Apollinaris-Kartons erbetteln ...« -, unterscheiden sich die dreiundzwanzig Regalmeter Pappcontainer, die dort lagern, sofort durch die amerikanische Aufschrift »Racket Storage System«, Copyright Illinois.

      »Fünfzehn Zentner! Briefe, Telegramme, Verträge ...« Kaum dass er die achtundsiebzig amerikanischen Umzugskisten erblickt, bricht der sonst so solide Gero Gandert, im bürgerlichen Beruf Abteilungsleiter der (West-)Berliner Kinemathek, in die exaltierten Gesten eines leidenschaftlichen Großwildjägers aus, der die Trophäe seines Lebens herzeigt.

      Ganderts Stolz allerdings ist gerechtfertigt. Die Kartons bergen Blatt an Blatt alte Freunde und Feinde, Berühmte und Vergessene - eine imaginäre Versammlung des deutschen Exils. Ohne Aufsehen sind, vertreten gewissermaßen durch Werke und persönliche Dokumente, die Verbannten nach ihrem Tod in die Stadt zurückgekehrt, aus der sie einst vertrieben wurden und in der man sie nie wieder einbürgerte - unerlöste Schatten, für die wir einen endgültigen Platz in der deutschen Geschichte noch nicht gefunden haben.

       Alle, die du hier siehst, sind unbestattet und hilflos. / Dort, der Ferge, ist Charon. Begraben sind jene, die fahren. / Keinen fährt er, bevor an ihrem Ort die Gebeine / Ruhen, vom schaudernden Ufer auf dumpfen Fluten hinüber. / Hundert Jahre irren und schweifen sie hier am Gestade. / Dann erst ist ihnen vergönnt, die ersehnten Gewässer zu schauen. 2

      »Drehbücher, unveröffentlichte Manuskripte, Hilferufe und Dankschreiben«, schwärmt Gandert: »Von Lion Feuchtwanger und Franz Werfel, von Heinrich, Klaus und Thomas Mann, von Günther Anders und Max Reinhardt, von Ernst Lubitsch, Peter Lorre, Kortner und Lang, von Remarque, Wilder, Eisler oder Zuckmayer. Sagen Sie einen Namen, er ist dabei: die Elite der Weimarer Kultur, die Besten, die sich vor den Nazis retten konnten. Die größte zusammenhängende Sammlung des deutschen Filmexils, soweit ich weiß ...«

      Was im vorläufigen Archiv seiner Auswertung harrt, offenbart jedoch mehr als filmhistorische Details. Der Schatz vom Sunset Boulevard birgt Aufklärung über sämtliche Bereiche der von den Nazis ausgetriebenen Kultur, das gesamte Spektrum dessen, was in der Weimarer Republik »modern« war. Denn als erst in Deutschland, dann in Europa kein Überleben mehr war, bot Hollywood ein schützendes Dach, unter das sich, wenn auch oft sehr widerwillig, Künstler und Intellektuelle verschiedenster Provenienz flüchteten. Der Film, für den die älteren Bereiche der Kulturproduktion gewissermaßen zuliefern, zog Theaterschauspieler und -regisseure ebenso an wie Musiker und Maler, Fotografen und Philosophen, Journalisten und Lyriker, Modedesigner und Romanciers. In der ökonomischen Not des Exils wurde das Hollywood-Kino zur goldstrahlenden Sonne, um die alle anderen Künste planetengleich kreisten.

      Wir zerren zwei der Kisten aus dem Regal und schleppen sie gemeinsam ans Licht des einzigen nicht verdunkelten Fensters. »European Relief Fund, Vermischtes« steht auf einem Deckel.

      »Also«, sagt Gandert, »ich greife jetzt mal blind hinein.« Beide Hände graben tief in das vergilbte Papier. »Hier finden Sie«, verspricht er, von lautem Geraschel begleitet, »eine lebendige, bewegende Chronik des Exils mit vielen in der Forschung unbekannten Einzelheiten: Berichte über die Stationen der Flucht, die bürokratischen Probleme, die Versuche, in den verschiedenen Ländern Fuß zu fassen, Bewerbungsschreiben, Honorarabrechnungen, Lebensläufe, Werklisten ... Allein die Autographen sind von unschätzbarem Wert!« Ganderts Hände tauchen mit einem Stapel Briefe wieder auf. Seine Augen fliegen über die krakelige Tintenschrift. »Glück gehabt«, strahlt er, »wir sind sofort auf etwas Besonderes gestoßen.«

      Triumphierend hält er mir einen Luftpostumschlag hin. Adressiert ist er, wie die meisten Schriftstücke in dem Karton, an »Mr. Paul Kohner ...«

       2

      9169 Sunset Boulevard • Ein schwarzer Cadillac fährt vor. Sein kalifornisches Kennzeichen besteht aus den Buchstaben »PAUKO« und sonst gar nichts. Aus dem Fond steigt ein alter Herr. Er trägt ein gestärktes weißes Hemd, einen blauen Blazer, graue Hosen mit scharfen Falten und, vollends ungewöhnlich in diesem Teil der Welt, eine dunkle Krawatte. Mit leicht steifen und doch federnden Schritten eilt er den Betonpfad zu dem runden Eingangsportal hinauf, vorbei an den beiden getrimmten Bäumchen und dem Gärtner, der sie gerade wässert. Die Blöcke der Klimaanlagen unter den Fenstern des weißen Holzhauses summen dumpf. Die Sonne wirft kaum einen Schatten. Es ist Vormittag in Hollywood, unweit der Stadtgrenze zu Beverly Hills. Über der Glastür, hinter der die große hagere Gestalt verschwunden ist, steht in dünnen schwarzen Metallbuchstaben: »Paul Kohner, Inc.«

      Der Gründer der legendären Künstleragentur ist, als ich ihn an diesem Spätsommertag 1985 zum ersten Mal treffe, dreiundachtzig Jahre alt und noch voll im Geschäft. Zu seinen Klienten zählen John Huston und Klaus Kinski, Charles Bronson und Volker Schlöndorff, Valerie Kaprisky, Reiner Schoene und Klaus Maria Brandauer. Bessere Auskunft über Kohners Leben als die Liste der gegenwärtigen Klienten gibt jedoch sein Büro. Es gleicht einem kleinen Filmmuseum mit dem Schwerpunkt dreißiger und vierziger Jahre.

      »Die Rolle ist natürlich die eines Nazis«, spricht Paul Kohner gerade in den Telefonhörer, als die Sekretärin mich hereinführt. »Aber sie wollen dich unbedingt.«

      Der Agent sitzt vor einem Berg von Papieren, Büchern und Aktenmappen, unter dem sich vermutlich sein Schreibtisch befindet. Als Briefbeschwerer dient ein Aschenbecher, auf dessen Rand ein Modell des Brandenburger Tors klebt. Hinter dem Sessel, das Terrassenfenster halb verdeckend, lehnt das Plakat zu »SOS Eisberg«, dem letzten Film, den Paul Kohner, damals noch Produzent, beenden konnte, bevor er Deutschland verlassen musste.

      Während er seinem fernen Gesprächspartner lauscht, winkt mir Kohner mit einer beiläufigen, aber bestimmten Geste, mich ruhig umzuschauen.

      In dem Bücherregal neben dem Schreibtisch stehen alte Ausgaben von Karl Mays Reiseerzählungen, auch »Winnetou«, daneben Werke von Traven, »another Paul Kohner client«, sowie viel Weimarer Avantgarde in englischer Übersetzung. Die Wand hinter dem rotgepolsterten Sofa, das den Mittelpunkt der Besucherecke bildet, bedecken bis auf den letzten Zentimeter Erinnerungsbilder, die Kohner mit seinen, zum Großteil verblichenen Klienten und Freunden zeigen. Heinrich Mann erkenne ich und Ernest Hemingway, Lubitsch und Dieterle, Remarque, Sirk und ein ewig junges Froschgesicht, dessen Badewannen-Porträt signiert ist: »To Paul Kohner with love - in the afternoon - in the morning - at night - forever. Billy Wilder, Paris '56«.

      »Okay, Max«, beendet Kohner das Telefonat, »ich werde sehen, was sich machen lässt.« Er steht auf und kommt mir entgegen. »Entschuldigen Sie«, sagt er, »aber den Sydow musste ich sprechen, es wird

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