Reise in die Verlorengegangenheit. Gundolf S. Freyermuth

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Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth

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1920 zum ersten Mal verlassen. Damals war der Sohn eines erfolgreichen Kinobesitzers aus Teplitz-Schönau achtzehn Jahre alt, im Gefolge des Ersten Weltkriegs gerade vom geborenen k.u.k.-Untertanen zum Tschechen geworden und auf dem besten Wege, sein Berufsleben als Journalist zu beginnen.

      Im böhmischen Karlsbad, unweit von Teplitz-Schönau, lernte er bei einem Interview den kurenden Carl Laemmle kennen, den deutschstämmigen Gründer der Universal Pictures. Ein paar Monate später fing Paul Kohner in der New Yorker Filiale an - als Packer in der Versandabteilung. Das allerdings blieb er nicht lange.

      Erich von Stroheim, dem er bei einem Ostküsten-Besuch als »Maître des céremonies« dienen sollte, überredete Laemmle, den alerten jungen Mann nach Hollywood zu holen. Kohners Karriere in der Hierarchie der Universal, einer der sieben oligopolistischen Produktionsfirmen, die sich das große Geschäft untereinander aufteilten, war steil. Bald führte er Regie, dann rückte er zum Produzenten auf.

      Im Jahre 1930 schickte ihn »Onkel Carl«, wie der Studiochef bei seinen Angestellten hieß und wie Kohner Laemmle heute noch nennt, nach Deutschland, um die dortige Zweigstelle der Universal zu leiten.

      »Ich war begeistert von Berlin!« schwärmt Kohner von der Stadt, in der über hundert Zeitungen und mehr als vierzig Wochen- und Monatsmagazine erschienen, in der drei Dutzend Theater spielten und in der es dreihundertsechzig große, kleine und kleinste Filmstudios gab.3 »Ich liebte Berlin auf Anhieb. Jeden Abend stürzte ich mich in das Nachtleben. Unglaublich! Alles hat mir wunderbar gefallen.«

      Vom ersten Augenblick an begleitete ihn jedoch der Schatten von Gewalt und Zensur, der über der ersten deutschen Demokratie lag.

      Kurz vor seiner Abfahrt aus Hollywood hatte er Albert Einstein kennengelernt, der sich vor antisemitischen Angriffen, mit denen ihn die Berliner SA verfolgte, für ein paar Monate an das kalifornische Institute of Technology zurückgezogen hatte.4 Bei einer Galavorführung betrachtete Einstein zusammen mit Carl Laemmle und Paul Kohner das jüngste Prestige-Produkt der Universal: Lewis Milestones »Im Westen nichts Neues«. dass die Verfilmung von Erich Maria Remarques pazifistischem Bestseller bei der deutschen Rechten auf Widerstand stoßen würde, darüber war man sich einig. Niemand jedoch rechnete damit, welche Dimensionen der Konflikt annehmen sollte.

      »Nach meiner Ankunft in Berlin hatte ich die Aufgabe«, sagt Kohner, »den Film in die deutschen Kinos zu bringen.«

       3

      Die Logik des dickern Knüppels • Große Leuchtreklamen flackern über den Nollendorfplatz. Auf den Bürgersteigen drängen sich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch die Menschen. Viele der kleinen Läden bleiben bis spät in den Abend geöffnet, das halbe Dutzend Cafés und Lokale ist gut gefüllt. Der »Nolli« ist einer der belebtesten Plätze des »Alten Westens«, über ihn führt eine Hauptverkehrsader zur grauen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Auguste-Viktoria-Platz, dem von Restaurants, Hotels und Luxusläden, von Kinos und Nachtlokalen umstellten Brennpunkt des Berliner Vergnügungslebens.5

      Aber auch der »Nolli« selbst mit seinen zahllosen Unterhaltungsetablissements - der Ufa-Pavillon und das Theater am Nollendorfplatz sind nur die größten - lockt am Abend Besucher aus allen Stadtteilen an.6 Unablässig rollt dichter Verkehr in alle Richtungen, zum Wittenbergplatz und zur Potsdamer Straße, von dort weiter nach Norden zum Alexanderplatz oder nach Süden zum Sportpalast oder in Richtung Osten über den Bülowplatz, wo sich das Karl-Liebknecht-Haus befindet, die kommunistische Parteizentrale. Der Lärm des nicht abreißenden Stroms von Bussen, Lastern und Personenwagen erfüllt die Luft, wird aber in Minutenabständen vom metallischen Rattern der U-Bahn übertönt, die hier überirdisch auf eisernen Stelzen in Richtung Gleisdreieck rast.

      An diesem Freitagabend, es ist der 5. Dezember 1930, versammeln sich kurz nach sechs Uhr an verschiedenen Ecken des Nollendorfplatzes kleine Gruppen von Menschen. Fast alle sind Männer, die meisten von ihnen jung, kaum über achtzehn. Sie tragen das übliche, leicht ärmliche Berliner Winterzivil, dicke Wollmäntel, Schals und den obligatorischen Hut, doch geht von ihnen der Eindruck einer militärischen Formation aus. Kommandogewohnte Anführer verteilen an die Neuankömmlinge Eintrittskarten. Sie gelten für die Sieben-Uhr-Vorstellung im Mozartsaal, einem unabhängigen, zu keiner der großen Ketten gehörenden Kino. Das Plakat an seinem Eingang kündigt in großen Fraktur-Lettern an: »Im Westen nichts Neues - Von Erich Maria Remarque - Ein Tonfilm in deutscher Sprache«.

      Seine Uraufführung fand hier gestern Abend vor geladenem Publikum7 statt und hinterließ »einen tiefen Eindruck«, wie der sozialdemokratische Vorwärts in der Morgenausgabe berichtet hat: »Nie ist der Krieg, nie sind die Erlebnisse einer Schulklasse und einer Kompanie so ergreifend und erschütternd geschildert worden.«8

      Zu Beginn weckte die technische Perfektion bei den Zuschauern Szenenapplaus, als nach zwei Stunden und zehn Minuten der Vorhang fiel, herrschte jedoch erschüttertes Schweigen: Allzu erschreckend lieferten die neuen Mittel des Tonfilms zu den bewegten Bildern des Grauens auch die Geräusche; das Heulen der Granaten, das Grollen der fernen Einschläge, das Krachen der nahen; lange verzweifelte Angst- und Todesschreie.9 Nur ein Gedanke bleibe von der realistischen Inszenierung der Schrecken einer modernen Materialschlacht zurück, heißt es in der ausführlicheren Kritik der gerade erschienenen Abendausgabe: »Nie wieder Krieg!«10

      Diese Botschaft missfällt vielen Deutschen. Seit Monaten schwelt in der öffentlichen Diskussion der Streit um die zwölf Jahre zurückliegende Niederlage. Die Frage der Kriegsschuld, der angebliche »Dolchstoß« aus der Etappe und republikanische »Novemberverbrechen« dienen als ideologische Krücken, mit denen die von der Weltwirtschaftskrise gelähmten Parteien und ihre verunsicherten Anhänger aufeinander eindreschen.

      Die Rechten, voran die Nazis, hetzen immer offener zu einem Angriffskrieg, der dem »Vaterland« seine »alte Größe« wiedergeben soll. Und derlei Parolen finden in den Monaten nach dem »Schwarzen Freitag« an der New Yorker Börse mehr Anklang denn je. Die Industrieproduktion ist drastisch gesunken. Millionen Frauen und Männer sind arbeitslos. Am Horizont ziehen Gewalt, Brutalität, Massenmord herauf. Vor zwei Monaten, im September 1930, haben die Deutschen die NSDAP zur zweitstärksten Reichstagsfraktion gewählt. Als erster Nationalsozialist ist in Thüringen Wilhelm Frick, den die Alliierten 1946 als Kriegsverbrecher hinrichten werden, zum Minister ernannt und auf eine Verfassung vereidigt worden, deren Abschaffung er betreibt. Im Ausland wächst die Beunruhigung. Schon damals, drei Jahre vor Hitlers Machtübernahme, baut Frankreich die Maginotlinie aus, weil es einen deutschen Überfall befürchten muss.

      Aber es ist auch eine Zeit, in der die Gegenkräfte noch einmal Anlauf nehmen, die Geschichte zu wenden. Künstler, Wissenschaftler und Filmemacher beginnen, sich für den Frieden zu engagieren. Die Mehrheit der Deutschen will keinen neuen Krieg. Erich Maria Remarque trifft daher mit seinem Roman »Im Westen nichts Neues« die Stimmung eines großen Publikums. Das pazifistische Werk, 1929 erschienen, wird binnen weniger Monate zu einem der größten Bucherfolge der Weimarer Republik und darüber hinaus ein internationaler Bestseller. Die Auseinandersetzung um seine Verfilmung demonstriert mit aller Deutlichkeit, welches Schicksal der Kultur unter Hitlers Herrschaft zugedacht ist - und wie wenig die Gegner der Nazis deren Macht- und Zerstörungswillen entgegenzusetzen haben.

      Seit Tagen bereits wettert die Presse des rechtsnationalen Medienzaren Hugenberg, Herr zugleich über die Ufa, gegen den »würdelosen Hetzfilm«. Das Auswärtige Amt hat zwar erklärt, dass Milestones Werk »Mut, Tapferkeit und Standhaftigkeit des deutschen Heeres im Weltkriege zeige«, das Reichswehrministerium hingegen verlangt ultimativ das Verbot des Hollywood-Streifens, da er angeblich das Ansehen desselben Heeres verunglimpfe.11 Das geltende Zensurgesetz allerdings ermöglicht eine solche Indizierung nicht.12

      Kurz

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